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„Wenn Gnade Mörder schont, verübt sie Mord.“
William Shakespeare
Romeo und Julia, 3. Akt, 2. Szene
Der Prinz
„Nein, Papa, lass, ich will nicht, dass du mir weh tust. Bitte!“, flehte Nora und versuchte, sich dem harten Griff des Vaters zu entziehen.
Das kleine Mädchen, das fünf Jahre jünger war als ihre Schwester Nora, hatte in ihrem Versteck hinter der Tür den Atem angehalten. Sie wusste, was jetzt kam. Nachdem ihr die Tasse aus der Hand geglitten war, wollte Nora fliehen. Ihr Vater zog sie an den Haaren aus dem Flur in die Küche. Der Kakao, den ihre Mutter ihnen jeden Abend kochte, bevor sie zum Nachtdienst ins Altenheim ging, hatte sich über den Boden ergossen. Sie war noch schnell nach unten in den Keller geeilt, um die Wäsche abzunehmen.
Nora hatte nach dem Abendessen, das sie schweigend eingenommen hatten, das Getränk ins Zimmer mitnehmen wollen. Sie war fünfzehn Jahre alt, sah aber aus wie eine Elfjährige. Nora war klein und schmächtig. Sie hatte eine feine weiße Haut und große blaue Augen. Ihre fast schwarzen Haare waren kurz geschoren. Die kleine Schwester dagegen hatte lange, blonde Locken, die Mutter jeden Morgen mit einem Samtband zusammenflocht. Nora war blass und zitterte am ganzen Körper, ihre Angst war schon zu einer Lebenshaltung geworden.
Das kleine Mädchen hinter der Tür hatte sich irgendwann zu fragen begonnen, warum der Papa immer nur zu Nora so böse war, aber sie hatte keine Antwort darauf gefunden. Jedes Mal, wenn ihrer Schwester ein Missgeschick passierte, wurde sie hart bestraft. Als sie Nora darauf angesprochen hatte, strich diese ihr sanft über das blonde Haar und lächelte.
„Ich bin immer so ungeschickt. Es ist alles nicht so schlimm, Engelchen, frag nicht weiter.“
Heute hatte der Kakao auf dem Boden eine Welle der Gewalt ausgelöst. Die Kleine stand ganz still hinter der Tür und sah durch den Türspalt, wie ihr Vater Noras rechtes Ohr ergriff und sie zu sich heranzog.
„Warum machst du immer, immer, immer, immer, immer wieder so eine Sauerei? Ich will, dass mein Zuhause sauber ist. Auf den Boden! Sofort! Wisch es weg!“
Seine Hand war an ihrem Ohr geblieben, das schon ganz rot war. Bei jedem „immer“ zerrte er voller Wut an dem Mädchen. Nora schrie verzweifelt. Sie kniete sich zu dem Fleck und wischte mit dem Ärmel, den sie über die Hand gezogen hatte, daran herum. Dass sie ihn so nur noch mehr verteilte, trieb den Vater zur Raserei. Er drückte Nora auf den Boden, sodass ihr Gesicht im Kakao landete. Mit einem festen Griff in ihren Nacken, zu dem er das glühend rote Ohr losließ, wischte er ihr Gesicht immer wieder über den Fleck. Das kleine Mädchen hinter der Tür hielt sich die Ohren zu. Jetzt war das Geschrei ihrer Schwester in ein Wimmern übergegangen. Plötzlich ließ der Vater los, Nora erhob sich mühsam. Sie war schmutzig, aber das war ihr egal. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
„Du wirst mir nie wieder weh tun. Nie wieder. Nie wieder.“
Sie flüsterte diesen Satz mehr zu sich selbst, als dass sie erwartete, es würde jemand hören. Niemand hatte sie je gehört. Nicht ihre Schreie, nicht ihr Flehen um Gnade, nicht ihre Gebete, sie zu erlösen. Sie wusste, dass sie das nur selbst tun konnte.
Nora lief zum Küchenschrank und öffnete langsam die Besteck-Schublade. Sie nahm das große Fleischmesser heraus. Jetzt drehte sie sich zu ihrem Vater um. Er hatte sie gar nicht beachtet, sondern sein vor Zorn und Anstrengung gerötetes Gesicht wieder in die Tageszeitung gesteckt.
Mit festen Schritten ging Nora um den Tisch herum und rammte das Messer mit ganzer Kraft in den Nacken ihres Vaters. Dann zog sie es heraus, wobei sie vor Anstrengung zitterte, um es noch einmal von der Seite in seinen Hals zu stoßen. Der Vater hatte sich umgedreht und versuchte, nach dem Messer zu greifen, aber beim zweiten Stich sprudelte unheimlich viel Blut hervor. Der große, kahlköpfige Mann griff sich an den Hals und kippte seitlich vom Stuhl. Er zuckte noch einige Sekunden, dann lag er regungslos auf dem Boden. Die große Menge Blut breitete sich auf dem hellen Laminat-Boden aus und versuchte, in den Ritzen zu versickern, als wollte es sich vor der Grausamkeit verkriechen.
Nora hatte alles mit Genugtuung beobachtet. Nun atmete sie erleichtert auf.
„Nie wieder!“, sagte sie noch einmal mit fester Stimme.
Dann schaute sie aus unendlich traurigen Augen durch den Türspalt zu ihrer kleinen Schwester. Sie drehte sich um, öffnete das Küchenfenster im elften Stock des Hauses und stellte einen Stuhl unter das Fensterbrett.
„Engelchen, es tut mir leid. Ich liebe dich.“
Die Kleine sah, wie Nora auf das Fensterbrett kletterte, dann hielt sie sich die Augen zu. Als sie sie wieder aufmachte, war das Fensterbrett leer. Der Winterwind bewegte die Gardine und frische Luft strömte herein. Sie eilte ans Fenster, kletterte auf den Stuhl und schaute hinaus.
Unten auf dem Weg lag Noras eigentümlich verrenkter Körper in den Resten vom Schnee, der sich nun dunkel färbte. Sie fiel rückwärts vom Stuhl in die Küche und begann zu schreien.
2
Die junge Frau mit den blonden Haaren saß am Rheinufer in Rüdesheim und hielt ihr Gesicht in die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings. Er hatte sich Zeit gelassen und den ganzen März hindurch mit dem Winter gerungen. Nach unendlich vielen Tagen mit Schnee, Sturm, Eisregen und dunklen Wolkenbergen hatte die Wärme der Sonne den Winter bezwungen. Von einem Tag auf den anderen war es Frühling geworden.
Die Menschen eilten mit leichten Jacken an ihr vorbei. Sie saßen auf Bänken, führten ihre Hunde spazieren oder spielten mit ihren Kindern.
Lisa hatte die Augen geschlossen. Sie war erst vor kurzem in den Rheingau gezogen. Nach der Arbeit auf dem Weg von Wiesbaden nach Hause hielt sie immer noch am Rhein an und lief den geraden, von alten Bäumen gesäumten Weg entlang. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem war sie ganz allein auf dieser Welt. Sie wusste nichts über ihren Vater oder darüber, ob sie Geschwister hatte. Sie wusste nur, dass sie vor vierzehn Jahren nach einem Unfall aus dem Koma, das sie lange Zeit mit Dunkelheit erfüllt hatte, erwacht war. Die Frau an ihrem Bett hatte geweint, als sie die Augen aufschlug.
„Wer sind Sie?“, hatte Lisa gefragt.
Die Frau schluchzte nun noch heftiger.
„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, deine Mama. Du hattest einen schweren Unfall.“
Lisa hatte verwirrt geschwiegen. Jetzt kamen die Ärzte und kümmerten sich eilig um sie. Einer leuchtete in ihre Augen. Der nächste maß ihre Temperatur. Jemand befestigte kleine Metallplättchen auf ihrem Kopf, um die Hirnstromwellen zu messen. Sie gaben kurze Anweisungen, sprachen aber sonst nicht mit dem zehnjährigen Mädchen. Lisa begriff, wer sie war, aber alles, was vor dem Unfall lag, war in der Dunkelheit geblieben. Die Ärzte wussten auch nicht, ob sie sich irgendwann wieder an ihre Vergangenheit erinnern würde.
Sie ging mit der fremden Frau in eine Wohnung, die ihr Zuhause sein sollte und aß Essen, das ihr Lieblingsgericht sein sollte. Sie wohnte in einem ihr unbekannten Zimmer und schlief in einem fremden Bett. Der kleine blaue Bär, der im Krankenhaus neben ihr gelegen hatte, war ihr einziger Freund und Vertrauter. Mit ihm besprach sie alles, was ihr wichtig erschien.
Langsam nahm der Alltag seinen Lauf. Lisa saß in der Schule und lernte fleißig. Mit den anderen Kindern hatte sie kaum Kontakt. In den Pausen stand sie allein und unauffällig in einer Ecke des Schulhofes und war froh, dass niemand Interesse an ihr zeigte. Sie machte ein gutes Abitur, studierte mit großem Erfolg Pharmazie und hatte vor einem Jahr begonnen, in der Krankenhausapotheke zu arbeiten. Der Verlust der Mutter hatte sie nicht sehr berührt,