und sah dem Todeskampf des Mannes zu. Sie nickte zufrieden und nahm die Maske ab, sie fühlte Erleichterung. Dann wandte sie sich ab. Der tote Körper des dicken Mannes blieb in der Blutlache liegen. Am Morgen wird man ihn finden, dachte die Gestalt, dann ist es endgültig vorbei. Sie holte eine winzige weiße Stoff-Rose aus der Innentasche der Jacke hervor und ließ sie auf die Leiche fallen.
Sie ging heim, unter die Dusche und ins Bett, aber sie fand keinen Schlaf. Dieser Mann hatte kein Recht zu leben. Wer so etwas tat, hatte sein Recht zu leben verloren. Niemand durfte einem Schwächeren ungestraft wehtun.
„Du wirst nie wieder jemandem etwas antun. Ich habe dich bestraft, weil es sonst keiner tun würde. Die Menschen schweigen, aber das ist nicht richtig!“
Ein qualvoller Schrei kam aus ihrer Brust, ein Schrei voller Erinnerungen und Leid, den niemand hörte. Die Gestalt ballte die Fäuste und versuchte zu schlafen. Als in der Ferne die durchdringende Sirene eines Polizeiautos zu hören war, das mit flackerndem Blaulicht durch das Morgengrauen raste, schlief sie endlich tief und fest.
5
„Sie ist gestorben.“
Kendra liefen die Tränen herunter.
„Oh, nein!“, rief Lisa, die wie jeden Tag auf der Bank saß.
Zwei Wochen waren vergangen, in denen sich die beiden jungen Frauen täglich sahen und meistens noch eine Tasse Kaffee im Café in der Nähe tranken. Sie hatten gehofft und gebangt und waren noch einmal von der Polizei befragt worden. Die Kommissarin war sehr einfühlsam gewesen und hatte, im Gegensatz zu ihrem Kollegen, auch nach ihrem Bauchgefühl gefragt.
„Es war niemand zu sehen, der ihr etwas angetan haben könnte, also ist es vielleicht in ihrem Zuhause passiert und dann ist sie weggelaufen und hat sich versteckt“, hatte Lisa gesagt.
„Das wissen wir nicht genau, niemand hat die Kleine irgendwo gesehen, nicht auf dem Weg, nicht im Ort. Wir kommen nicht weiter“, erklärte der blonde Kommissar sachlich. „Sie hat eine junge Mutter und einen älteren Stiefvater, also ist ein normales Familienleben wahrscheinlich. Sie sind auch nicht beim Jugendamt bekannt, also muss eine fremde Person dort gewesen sein. Bitte denken Sie noch einmal genau nach!“
„Es war wirklich nichts Besonderes. Die drei alten Herren mit den Hunden, die Frau mit dem Kinderwagen, die Joggerin. Glauben Sie mir, ich bin jeden Tag dort und mir würde ein unbekannter Mann auffallen.“
„Schade, ich habe so gehofft, dass Sie uns helfen können.“
So war Lisa wieder gegangen, auch Kendra konnte nichts Hilfreiches aussagen. Nun saßen sie hier auf der Bank und weinten gemeinsam um die kleine Hanka, die die Ärzte nicht retten konnten.
„Woher weißt du das denn?“
„Es stand in der Zeitung. Sie wurde mehrfach vergewaltigt und ist vor fünf Tagen an inneren Blutungen gestorben. Die Leute von der Zeitung haben einen widerlich reißerischen Artikel daraus gemacht, aber sie haben nach Zeugen gesucht.“
„Der Kommissar hat gesagt, zu Hause war alles in Ordnung.“
„Ja“, sagte Kendra nachdenklich und wischte die Tränen ab, „das hat man bei uns auch gesagt. Mein Vater hat immer meine Stiefschwester gedemütigt und ihr wehgetan. Ich stand hinter der Tür, als sie ihm ein Brotmesser in den Hals gerammt hat. Danach ist sie aus dem Fenster gesprungen. Im elften Stock. Ich war noch klein, aber ich sehe diese Szene seit kurzem wieder deutlich vor mir.“
„Oh, mein Gott, dann muss dich das mit Hanka ja noch viel schlimmer getroffen haben. Was meinst du mit: Das haben sie bei uns auch gesagt?“
„Meine Mutter hat immer alles schön geredet und mir hat er nichts getan, weil ich sein Engelchen war. Meine Schwester Nora war wohl das Ergebnis eines Seitensprungs und er hat sie immer spüren lassen, dass sie nichts wert ist.“
„Hat dein Vater das überlebt?“
„Nein, Gott sei Dank nicht, er war ein mieses Schwein, das sich an Schwächeren vergriffen hat, aber nach außen hin war alles eine heile Welt. Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie sich nicht gewehrt hat, dass sie meine Schwester nicht beschützt hat. Wir sind dann weggezogen. Als ich achtzehn war, bin ich weg. Das Jugendamt war zweimal da, aber die haben sich ja immer schön angekündigt und am Anfang hat er ihr auch nicht ins Gesicht geschlagen, nur dorthin, wo man es nicht sah. Und ich dachte, es ist in Ordnung so. Verstehst du? Ich war ein kleines, dummes Kind, das alles bekommen hat und ich dachte, es ist in Ordnung.“
Ein heftiger Weinkrampf schüttelte Kendra und Lisa legte hilflos den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Sie konnte sich vorstellen, was in ihr vorgegangen war, als sie Hanka gefunden und die Verletzungen gesehen hatte.
„Ich hoffe, sie finden den Täter und sperren ihn für immer ein“, erwiderte Lisa entschlossen.
„Wenn ich ihn finde, mache ich genau das, was meine Schwester mit meinem Vater gemacht hat. Er wäre davongekommen, weil niemand etwas gewusst hat. Die Opfer schweigen meist ein Leben lang. Ich habe bis vor kurzem nicht mehr daran gedacht, weil ich das Elend erfolgreich verdrängt hatte. Erst als ich Hanka so gesehen habe, kam alles wieder hoch. Komm, ich brauche jetzt einen starken Kaffee und einen Schnaps.“
Am kommenden Tag kam Kendra zu Lisas Bank gerannt und wedelte schon von weitem mit der Zeitung.
„Du glaubst nicht, was passiert ist!“
Sie ließ sich atemlos neben Lisa nieder und hielt ihr Seite eins unter die Nase. Mit großen roten Buchstaben stand dort die Schlagzeile: „Kinderschänder tot!“.
„… hier ist es: Der Stiefvater der neunjährigen Hanka W. hatte das Kind jahrelang missbraucht und geschlagen. Weil keine Anzeige beim Jugendamt gemacht wurde, blieben die Taten unentdeckt. Bei Hankas Obduktion entdeckte der Pathologe zahlreiche alte Knochenbrüche und Narben.“
6
Bianca Bonnét und Michael Verskoff waren am frühen Morgen an den Rhein geschickt worden. Mitten auf dem Weg hatte ein früher Jogger einen toten Mann gefunden und den Notruf gewählt. Die Schicht hatte gerade gewechselt und Michael war wie immer mies gelaunt, wenn er so früh aus dem Bett geklingelt wurde.
Der Morgennebel hing noch in der Luft, es tropfte von den Zweigen der Bäume und es war empfindlich kühl. Wenn dann die Sonne ihre warmen Strahlen ausbreitete, war die Erinnerung an den Winter schnell verflogen. Es war kurz nach fünf. Der Jogger stand frierend und bleich neben einer Bank, die Streife, die schon vor Ort war, hatte ihn mit einer Decke und einem warmen Kaffee versorgt. Michael nickte Bianca mürrisch zu und ging zur Leiche. Bianca trat zu dem Mann in der Sporthose. Er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen und trat von einem Bein auf das andere.
„Guten Morgen, ich bin Bianca Bonnét von der Kriminalpolizei, das da hinten ist mein Kollege, Kommissar Verskoff. Herr …?“
„Beckert.“
„Herr Beckert, Sie haben den Toten gefunden, warum laufen Sie denn schon so früh hier herum?“
„Ist das jetzt verboten? Ich laufe jeden Morgen vor der Arbeit meine Strecke, dann bin ich frisch genug für einen langen Tag im Büro. Ich komme übrigens wegen Ihnen zu spät.“
Der Jogger hatte genauso schlechte Laune wie der Kommissar, Bianca war das gewohnt und blieb ruhig und freundlich.
„Das tut mir sehr leid, Herr Beckert, aber wir sind gleich fertig. Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt? War etwas anders als sonst?“
„Klar war etwas anders als sonst oder denken Sie, hier liegt jeden Morgen eine Leiche auf dem Weg. Ich dachte erst, es hätte wieder jemand seinen Müll hier abgeladen und bin näher heran. Dann sah ich, dass es ein Mensch war. Das ganze Blut war vollkommen ekelhaft, eine Sauerei. Ich hoffe, ich bin nicht hineingetreten, als ich geschaut habe, ob er noch atmet.“
„Haben