nicht als bedrückende Einsamkeit, sondern als friedlichen Ruhebereich für ihre Seele.
Niemand hatte ihr jemals erzählt, was bei dem Unfall geschehen war. Ihre Mutter weigerte sich. Später hatte sie es vergessen und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, danach zu fragen.
3
Lisa war aufgestanden und wollte heimgehen, als eine Joggerin an ihr vorbeilief und wie immer freundlich nickte, wenn sie sich hier begegneten. Sie war etwa im gleichen Alter wie Lisa und trug die langen, blonden Haare zu einem Knoten verschlungen, der mit einem blauen Band zusammengehalten wurde. Lisa lief in die gleiche Richtung.
Wie immer war sie nach der Arbeit hierher gekommen und hatte ihr Auto nebenan im Wohngebiet abgestellt. Wenn es schön war, setzte sie sich noch auf immer dieselbe Bank. Zweimal hatte dort in der Mitte der drei glatten Bretter eine alte Frau gesessen und sie grimmig von der Seite angeschaut, als Lisa sich auf die Kante dazusetzte.
„Es gibt hier noch mehr Bänke, Mädchen“, hatte sie gesagt und nach links und rechts gezeigt.
„Ich sitze immer hier, das ist die schönste Bank, Entschuldigung.“
Die Frau schüttelte den Kopf, stand auf und ging. Lisa war es egal, was sie dachte und rutschte in die Mitte. Sie saß eine Weile ganz still dort und erhob sich langsam, um sich auf den Heimweg zu machen. Sie war schon in der Nähe des Autos, da fiel ihr Blick zur Seite in die Nähe eines Busches mit winzigen, grünen Blattspitzen. Die Joggerin kniete dort am Boden und redete auf ein kleines Mädchen ein.
Lisa eilte zu ihr und fragte: „Kann ich Ihnen helfen? Was ist denn passiert?“
Dann fiel ihr Blick auf das Mädchen und sie zuckte zurück. Beide Augen waren von blauen Rändern begrenzt, Nase und Lippen waren blutig und geschwollen, sie saß zusammengekrümmt am Boden und presste die Hände auf den Bauch. Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Haare waren zerzaust und oberhalb der Stirn befand sich eine kahle Stelle, als hätte ihr jemand die Haare ausgerissen.
Lisa schluckte und unterdrückte die eigenen Tränen, um das Kind nicht noch mehr aufzuregen. Die Kleine musste etwa acht oder neun Jahre alt sein. Die Kleidung passte überhaupt nicht dazu, denn sie trug ein enges Kleid.
„Wer bist du denn, Kleine?“, fragte die Joggerin sanft und strich ihr über das Haar.
„Hanka.“
„Wollen wir mal zu deiner Mama gehen? Ist sie hier oder bist du ganz alleine?“
„Alleine.“
„Hast du Schmerzen?“
Hanka nickte nur.
„Kannst du aufstehen?“
Hanka schüttelte den Kopf.
Die Joggerin nickte Lisa zu, die nach ihrem Handy gegriffen hatte und den Notruf wählte. Was musste dieses kleine Mädchen für furchtbare Dinge erlebt haben? Sie war sich nicht sicher, ob sie Genaueres wissen wollte.
Zehn Minuten später kam der Rettungswagen den Weg am Rhein entlanggefahren und hielt auf dem Rasen neben dem Busch. Kurze Zeit später hielt ein Streifenwagen dahinter, denn beim Eintreffen des Notarztes hatten sich einige Schaulustige versammelt. Die Polizisten drängten die Menschen in beide Richtungen des Weges zurück. Dann traten sie zu den beiden Frauen, die etwas abseits an einem großen, alten Baum standen und die routinierten Handgriffe des Rettungsteams verfolgten. Lisa weinte nun doch noch, so erschüttert war sie.
„Sie haben die Kleine gefunden?“, fragte der junge Polizist, der jetzt auf sie zukam.
Lisa, die sich die Tränen abgewischt hatte, und die Joggerin nickten.
„Ich bin Lisa Gornst, ich komme nach der Arbeit immer hier vorbei.“
„Ich bin Kendra Thoerent, das ist meine tägliche Joggingstrecke. Was ist mit dem Mädchen passiert? Es sah so aus, als wenn …“
Sie sprach nicht weiter, am Rettungswagen wurde Hanka gerade behutsam auf eine Trage gelegt, ein Tropf war angelegt und ein Monitor maß ihre Herztöne. Die Tür des Fahrzeugs schloss sich summend und dann setzte es sich mit Blaulicht und Sirene in Bewegung. Nun kam der zweite Polizist herüber, er hatte mit dem Notarzt geredet.
„Es besteht der Verdacht auf eine Vergewaltigung und misshandelt hat man sie sehr heftig. Von Schlägen bis zum Haare ausreißen war wohl alles dabei. Die Ärzte bangen um ihr Leben, denn sie hat schwere innere Verletzungen. Sie haben das Mädchen gefunden? Wo genau?“
Kendra zeigte auf das Gebüsch.
„Sie saß wie eine Puppe am Boden, zwischen den Ästen und hat gewimmert, ich habe es nur gehört, weil ich gerade die Kopfhörer aus den Ohren genommen hatte. Als ich mich gebückt habe, kam sie herausgekrochen. Oh, mein Gott, wer tut so etwas?“
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Haben Sie in der Umgebung etwas bemerkt? Einen Mann vielleicht?“
Lisa sagte nur: „Es war heute nicht so viel los wie sonst, die meisten Spaziergänger waren Frauen, die drei Männer mit den Hunden sind alt und auch immer hier unterwegs.“
Die Polizisten nahmen ihre Personalien auf und verabschiedeten sich.
„Wir wenden uns bei Bedarf noch einmal an sie. Drücken Sie der Kleinen die Daumen, dass sie es überlebt. Und danke, dass Sie so schnell reagiert haben.“
Sie gingen davon und die beiden Frauen blieben erschüttert zurück. Dann sank Kendra plötzlich auf die Knie und schluchzte heftig. Ihre Schultern bebten, als Lisa die junge Frau wieder hochzog und in die Arme nahm.
„Sie wird es schaffen, die Ärzte tun sicher alles für Hanka. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank.“
Als sie nebeneinander saßen, entschuldigte sich Kendra für den Gefühlsausbruch, aber Lisa winkte nur ab.
Sie streckte der Joggerin die Hand hin und sagte: „Ich bin Lisa. Sie sind die nette, junge Frau, die mir immer zunickt, wenn ich auf meiner Bank sitze.“
„Ich bin Kendra. Ja, ich sehe Sie immer dort sitzen und Sie sehen sehr entspannt und zufrieden aus. Wir können doch Du sagen.“
„Gerne. Was denkst du, wer Hanka das angetan hat?“
„Keine Ahnung, ich hoffe nur, hier an Rheinufer läuft kein Vergewaltiger herum, der kleine Mädchen anfällt.“
Sie verabschiedeten sich und wollten sich am kommenden Tag zu einem Kaffee treffen.
4
Die dunkle Gestalt hinter dem Baum stand vollkommen ruhig da, das einzige, was sich bewegte, war der Zeiger der Uhr, der unaufhaltsam vorwärtsstürmte. Nein, es war nicht das einzige, was sich bewegte: Das Herz klopfte der Gestalt so laut in ihrer Brust, dass es fast zersprang. Hinter ihr floss der Rhein so entspannt dahin, als ob er schon schlief.
In sieben Minuten war es soweit. Die Dunkelheit war undurchdringlich, nachdem der Mond hinter einer Wolke verschwunden war. Die Gestalt schwitzte unter der schwarzen Wollmaske, aber sie wusste nicht, ob es vor Aufregung oder Hitze war. Die Hände steckten in schwarzen Gummihandschuhen, das Messer in der Hand hatte vorhin im Mondlicht noch silbern geglänzt, aber jetzt war es genauso unsichtbar wie alles andere.
Es war kurz vor Mitternacht, in der Ferne waren Schritte von schweren, festen Schuhsohlen zu vernehmen. Die dunkle Gestalt hinter dem Baum straffte sich. Sie war bereit, den zu richten, der Unrecht begangen hatte.
Ein dicker, grobschlächtiger Mann war in seinen Umrissen zu erkennen, er näherte sich unaufhaltsam und mit eiligen Schritten dem Baum. Die Gestalt kam hinter dem Baum hervor und ließ das Messer mit der langen, scharfen Klinge auf die Person, die fast genauso groß war, niedersausen. Erschrocken fasste sich der dicke Mann an die Schulter, schaute hoch und gab der Gestalt die Möglichkeit, das Messer in voller Länge in seinen Hals zu stoßen. Mit einer kurzen,