Hals sehen?“
„Es war nicht dunkel.“
Er zeigte auf seinen Kopf, wo eine runde Taschenlampe von einem Stirnband gehalten wurde, und schaltete sie ein. Sofort wurde Bianca von einem grellen, weißen Licht geblendet. Sie kniff die Augen zusammen und bedankte sich für die Vorführung.
„Sehr gut, Sie können gehen, wenn die Kollegen Ihre Personalien aufgenommen haben. Wir werden uns gegebenenfalls noch einmal an Sie wenden. Bitte melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“
Sie gab ihm ihre Karte und nickte dem Mann noch einmal freundlich zu. Danach ging sie zu Michael hinüber, der gerade mit dem Notarzt sprach, der zuerst vor Ort gewesen war.
„Er war schon tot, als wir eintrafen, und das seit Stunden. Näheres zur Todeszeit können Sie bei der Obduktion erfahren, hier ist für uns Schluss. Man hat ihm die Kehle zerfetzt, er hatte keine Chance.“
„Danke, Doktor. Bianca, was sagt der Mann? Hat er etwas gesehen? Woher hat der Typ einen Kaffee?“
„Lieber Michael, der nette Kollege von der Streife hat ihm aus seiner Isolierkanne etwas angeboten, sicher wirst du nicht in den Genuss dieses Getränks kommen. Der Zeuge hat die Leiche nur gefunden, aber niemanden gesehen. Er hatte genauso schlechte Laune wie du so früh am Morgen. Hast du denn etwas erfahren?“
„Der Kerl ist tot, auf seiner Brust liegt eine kleine weiße Rose aus Stoff. Er liegt schon eine Weile hier und so wie es aussieht, sollte er auch direkt gefunden werden. Wo ist denn dein Schatz von der Spusi?“
„Er ist nicht mehr mein Schatz. Also hör auf zu sticheln. Komm, wir fahren ins Büro und ich koche uns einen schönen Kaffee.“
„Dazu sage ich nicht nein, meine liebe Kollegin.“
Die beiden stiegen in den Dienstwagen und fuhren zurück ins Präsidium. Bianca musste im Auto still vor sich hin grinsen. Vor einem Jahr hatte sie sich zum ersten Mal mit Pit Deicker von der Spurensicherung verbabredet, sie hatten sich öfter getroffen und ineinander verliebt, aber dann stellte sich heraus, dass Pit ein Kontrollfreak war. Er wachte eifersüchtig und cholerisch darüber, mit wem Bianca redete, telefonierte oder Mails austauschte. Selbst den Kellner, bei dem sie ihr Essen bestellte, musterte er argwöhnisch. Sie fühlte sich wie in einem Käfig, aber wenn Pit gerade mal nicht vor Wut platzte, war er liebevoll und ein guter Liebhaber. Vor zwei Monaten hatte sie sich endgültig von ihm getrennt und ging ihm nun so gut wie möglich aus dem Weg. Michael kümmerte sich in dieser Zeit ruhig und besonnen um sie, denn Pit veranstaltete die eine oder andere Aktion, mit der er Bianca beweisen wollte, dass sie nicht ohne ihn leben könnte.
Sie war froh gewesen, dass Pit heute Morgen keinen Dienst hatte und lehnte sich nun entspannt zurück. Michael ärgerte sie ab und zu mit ihrem „Schatz von der Spusi“, aber er durfte das. Seit sie wieder alleine war, benahm er sich freundlicher, war ausgeglichener, weil er das Rauchen aufgegeben hatte und er hatte sich sogar den Bart wieder abrasiert. Jeden Tag duftete er gut und war schlank und drahtig, weil er wieder begonnen hatte zu laufen.
„Wo fangen wir denn an? Weißt du den Namen des Mannes?“
Michael blätterte in seinen Notizen.
„Robert Weißlinger, neununddreißig Jahre, wohnt in Rüdesheim.“
„Weißlinger … Weißlinger … den Namen kenne ich doch … warte … das Mädchen, das neulich im Park gefunden wurde. Sie ist im Krankenhaus gestorben, ihr Stiefvater hieß Weißlinger und stand kurzzeitig unter Verdacht, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Er ist beim Verhör vor Trauer zusammengebrochen und hatte berichtet, dass die Kleine immer abgehauen ist, wenn es mal Streit gab. Es lief schon eine Vermisstenanzeige des Stiefvaters, was ihn erheblich entlastet hat. Die Frau, um viele Jahre jünger, hat das bestätigt, aber es kam den Beamten vor, als wäre sie eingeschüchtert gewesen. Auf die Frage, woher die alten Verletzungen und Narben stammten, gab sie an, dass ihr leiblicher Vater sie öfter geschlagen hat. Die Staatsanwältin musste sich geschlagen geben, weil der Oberstaatsanwalt sie zurückgepfiffen hat.“
„DIE Staatsanwältin? Deine Freundin?“
„Ja, meine Freundin Nele war zuständig, aber die Ermittlungen laufen nicht mehr in Richtung der Familie. Sie war sich sicher, dass er der Täter war.“
„Anscheinend hat ihn jetzt jemand dafür bestraft.“
„Die Rose war weiß. Wenn sie rot gewesen wäre, könnte man an ein Verbrechen aus Leidenschaft denken, aber sie war weiß und weiß steht für Unschuld, Reinheit, aber auch Abschied.“
„Ach ja, da spricht die hochsensible Frau. Nun guck nicht schon wieder so böse, ich bin doch froh, dass es dich gibt und du diejenige von uns beiden bist, die mit dem Herzen denkt.“
„Das hast du aber nett gesagt. Dankeschön.“
„Ich bin immer nett.“
Bianca begann zu lachen und rief dann in der Gerichtsmedizin an, um zu fragen, was es Neues gab. Sie brummte ab und zu in den Hörer, hörte lange und geduldig mit verkniffenem Gesicht zu und legte dann auf.
„Und?“, fragte Michael.
„Ein Stich in die Schulter, mit großer Kraft ausgeführt, Täter ist in etwa gleich groß, also eher klein, aber kräftig. Dann ein zweiter Stich in den Hals und der Doktor hat mir gerade erklärt, wie der Täter mit dem Messer in der Wunde herumgerührt hat. Widerlich. Ansonsten war er wohl danach sofort tot, weil es ihm die Halsschlagader zerrissen hat. Da hatte jemand Kenntnisse der Anatomie.“
„Nein, das muss man dafür nicht, denke ich, weil jedes Kind weiß, wenn man einem die Halsschlagader durchschneidet, ist man ziemlich tot.“
Bianca sah ihn grimmig an und erwiderte: „Kinder denken nicht an solche Dinge, nur Erwachsene. Tu nicht immer so überheblich, das bist du nämlich gar nicht.“
7
Lisa war am Nachmittag zum Supermarkt unterwegs. Es war Wochenende gewesen und am Montag der erste Mai, nun konnten die Leute endlich wieder einkaufen gehen. Dementsprechend voll war der Parkplatz und Lisa musste ihr Auto weit entfernt vom Eingang abstellen. Als sie die Tür öffnete, tat das der Fahrer des benachbarten Fahrzeugs, das rückwärts in der engen Lücke stand, auch gerade und die Türen schlugen krachend gegeneinander.
„Ach du Scheiße!“, rief ein sportlicher Mann Mitte zwanzig. „Meine Schwester erschlägt mich. Haben Sie keine Augen im Kopf?“
„Oh, es tut mir leid, ich habe nicht gesehen, dass da jemand im Auto sitzt. Sie haben mich ja auch nicht gesehen. Was nun? Rufen wir die Polizei?“
Der junge Mann lächelte Lisa aus sanften, grauen Augen an und strich sich eine kastanienbraune, mittellange Haarsträhne hinter das Ohr. Seine schmalen Lippen öffneten sich leicht und er zischte durch die weißen Zähne hindurch, als er die Beule in der Tür sah.
„Mist, das gibt Ärger. Sie müssen wissen, meine Schwester hat mir das Auto heute geliehen, weil ich noch Hundefutter holen will. Sie ist Staatsanwältin und sehr genau. Wir müssen die Polizei holen, sonst macht sie mir die Hölle heiß. Obwohl ich einer so hübschen Frau das gerne ersparen würde.“
Lisa senkte den Blick und errötete. Noch niemals hatte ein Mann so offensiv mit ihr geflirtet und wenn einer damit angefangen hatte, dann war sie schnell weggelaufen. Männer waren ihr im Allgemeinen suspekt, dieser hier war forsch und er gefiel ihr sehr gut. Als sie wieder aufschaute, sah sie sein unwiderstehliches Lächeln und nickte nur. Die Streife kam nach dreißig Minuten und nahm den Unfall auf, dann gab ihr der junge Mann seine Visitenkarte, denn es konnte nicht festgestellt werden, wer die Tür zuerst geöffnet hatte, also sollten sich die Versicherungen damit auseinandersetzen.
„Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir auf den Schreck?“
„Ich … ich … muss einkaufen und … ich weiß nicht.“
„Nicht so schüchtern, das Schicksal hat uns