Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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Mann. Das wäre verdammt schade. Ich kann noch so viel lernen. Ich muss noch so viel üben. Am liebsten würde ich jetzt gleich damit weitermachen.“

      Er schürzte die Lippen zu einem Kussmund und stürzte sich in einer wilden Umarmung auf mich. Ich ließ mich aufs Bett fallen und schüttelte ihn lachend ab. Wir lagen einen Moment nebeneinander auf dem Bett, so dass unsere Blicke genau auf das Foto von meinem Vater und mir als Baby fielen.

      „Dein Alter war ein ziemlich großer Mann, oder? Also sieht zumindest auf dem Foto so aus.“

      „Er hat ein kleines Baby auf dem Arm. Da sieht jeder groß aus“

      „Ich meine… guck doch mal die Hände an. Er hat echt große Hände.“

      „Naja. Er war Pianist.“

      „Ja und wenn man Pianist ist, wachsen einem automatisch große Hände oder was?“

      Ich betrachtete das Bild von dem feingliedrigen Mann, mit dem winzig wirkenden Baby auf dem Arm. Keine Ahnung, wie groß er war. Aber er blickte sehr ernst in die Kamera. Das fiel mir auf. Und das Baby auch. Mit den gleichen tief-schwarzen Augen. Fast schon feierlich. So als wüssten sie, dass dieses Foto, das einzige Bild von Vater und Sohn bleiben würde.

      Basti rappelte sich auf.

      „Wie war’s an der Heimatfront?“

      „Gut. Es war wirklich gut. Ich glaube, es hat nicht einen Tag geregnet.“

      „Ich mein doch nicht das Wetter. Ich mein: wie war’s? Was hast Du gemacht? Wie lief’s mit Mutti?“

      Basti wusste, dass Mutti in unserer Familie ein Unwort war. Aber ich ging nicht darauf ein.

      „Ich meine nicht nur das Wetter. Es war gut. Wir waren jeden Tag im Freibad. Ich hab mein Pensum absolviert. Wir haben Karten gespielt und Schach und sowas. Ich hab natürlich nicht einmal gewonnen.“

      „Nichtmal Remis?“

      „Nichtmal Remis.“

      „Oh Mann. Ich muss mal gegen deine Mutter spielen.“

      „Geh. Frag sie. Da kannst du auch was lernen.“

      „Ach echt?“, grinste Basti und ich erahnte seine Gedanken.

      „Boah, du hast echt ein massives Hormonproblem, weißt du das?“

      „Absolut“, grinste Basti. „Und du? Was hast du mit deinen Hormonen so angestellt in den letzten Wochen?“

      Ich zuckte mit den Schultern.

      „Alles wie immer.“

      In Bastis Abwesenheit hatte ich mit genau zwei weiblichen Wesen gesprochen. Das eine war meine Mutter und das andere war eine etwa vierzigjährige Frau, mit der ich beim Schwimmen zusammengestoßen war. Sie hatte gelächelt und mich ermahnt, ich solle nicht so stürmisch sein. Dann hatte sie mir zugezwinkert und war weitergeschwommen. Manchmal habe ich ein paar von Katrins Freundinnen am Volleyballplatz gesehen, ohne irgendein Wort mit ihnen zu wechseln. Katrin selbst war mit Lisa und ihren Eltern in einem Ferienclub auf Lanzarote. Volle sechs Wochen lang. Aber dennoch hatte ich die Tage genossen. Meine Mutter hatte frei. Wir spielten Sechsundsechzig, Rommé und Canasta und meistens eben Schach. Ich las Unterm Rad von Hermann Hesse und war ehrlich beeindruckt. Nicht nur, dass der jugendliche Held am Ende starb. Das kam mir sehr erwachsen vor. Es gab auch eine zarte, zumindest leicht erotische Szene, die mir sehr gefiel. Meine Mutter hatte mir das Buch gegeben und ich hatte das Gefühl, sie beobachtete mich beim Lesen. So als wollte sie testen, ob mich Liebe und Sex und Mädchen überhaupt interessierten. Es war peinlich von ihr so angestarrt zu werden, aber das Buch war trotzdem gut.

      An den Nachmittagen hatte ich mich an der Forschungsarbeit versucht. Meine Mutter hatte mir ein Programm gezeigt, mit dem ich aus unseren Tabellendaten, Grafiken erstellen konnte.

      „Hey. Die sehen ja prima aus“. Basti klickte sich in unserem Wohnzimmer durch die Bilder. „Damit kriegen wir die fünfzehn Seiten locker gefüllt.“

      Die restlichen Wochen der Sommerferien verliefen in etwa so, wie die ersten beiden, nur dass ich statt meiner Mutter nun Basti dabei hatte. Immerhin spielten wir jetzt ein paar mal Volleyball. Aber seitdem Basti mit Lisa Schluss gemacht hatte, war die Mädels-Gang nicht wirklich gut auf ihn zu sprechen. Wir blieben meistens für uns und hängten uns beim Schwimmen voll rein. Auch das Training am Nachmittag begann wieder und wenn wir danach an unserm Computer vor der JuFo-Arbeit saßen, war ich oft zu müde, auch nur eine Taste zu drücken. Glücklicherweise wusste Basti genau, was er schreiben wollte und wie er unsere Ergebnisse zu interpretieren hatte. Ich las einen Artikel über Mäander in einer Fachzeitschrift, fügte die Schaubilder ein und den Rest erledigte er. Am letzten Tag der Ferien, lag unsere Arbeit fix und fertig ausgedruckt vor uns. Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern von Sebastian Reuscher und Peter Boltenhagen, Klassenstufe 10.

      „Fünfzehn Seiten mit Literaturverzeichnis und Anhängen“, triumphierte Basti.

      „Müssten wir mittlerweile nicht Klassenstufe 11 drauf schreiben, fragte ich?“

      „Richtig, Pete“, freute sich Basti. „Wenn ich dich nicht hätte.“

      Während er die Titelseite neu ausdruckte, beschlich mich das Gefühl, damit meinen wichtigsten Beitrag zu unserem Werk geleistet zu haben.

      Der Regen bleibt

      Das neue Schuljahr begann mit viel Routine, aber auch einigen Neuerungen. Trotz meines milde vorgetragenen Protests besuchte ich immer noch die Lateinklasse, um irgendwann das große Latinum zu erreichen. Latein war eines der Themen, über das meine Mutter nicht mit sich reden ließ. All meine Hoffnungen ruhten auf Basti und den Reclam-Übersetzungen, die wir bei Klassenarbeiten auf dem Klo deponierten.

      Chemie hatte ich abwählen dürfen. Immerhin. In Physik hatten wir weiterhin Herrn Böttcher, so dass ich mit einer sicheren Drei am Jahresende rechnen konnte. Mathe war kritisch wie immer, aber mit ein bisschen Fleiß würde ich schon durchkommen.

      Frauen hingegen waren das Thema, das mir wirklich Sorgen machte. Katrin Morgentaler war tief gebräunt aus ihrem Urlaub zurückgekommen. Trotz der brutalen Wochen der Distanz, wie sie erzählte, war sie immer noch mit Ben zusammen und dieses Jahr endlich zur Schülersprecherin gewählt worden. Den Schwimmunterricht hatte sie wieder aufgegeben. Er ließ sich wohl doch nicht so günstig mit Volleyball verbinden. Da wir auch nicht mehr im Keller zusammen hockten, sahen wir uns kaum noch, aber waren immer noch befreundet. Sie winkte mir im Schulflur zu und ich nickte mit einem Lächeln zurück. Ich war nicht mehr in sie verknallt und unsicher, ob ich es jemals wirklich gewesen war. Nach wie vor turnte sie mit und ohne Bikini durch meine Träume und machte dort ziemlich spannende Sachen mit mir. Das schon. Aber die Realität war nun mal die Realität.

      Wenigstens hatte sich mein Körper endgültig für die Idee des Wachsens begeistern lassen. Badehosen, Turnschuhe und alles was sonst noch unbedingt nötig war, wurden durch größere ersetzt. Leider standen Shirts und Pullover nicht auf der Prioritätenliste meiner Mutter ganz oben, so dass ich oft wie ein Clown durch die Gegend lief, bis Basti mir aushalf. Im Sportunterricht standen mittlerweile eine ganze Reihe von Jungs zwischen mir und Rainer Seelemann, dessen Wachstumsprozess offenbar bei 1,70m sein Ende gefunden hatte. Dazu gab es kein einziges Mädchen mehr, das größer war als ich. Tanja Hofmann war vielleicht genau so groß. Aber ich wirkte um einiges größer als sie. Wenn ich mich selbst irgendwo in einer Scheibe sah, erschrak ich jedes Mal. Ich sah tatsächlich aus wie sechzehn. Wie ein ganz normaler Teenager. Das Tolle daran war: alle um mich herum schienen das auch zu sehen. Die Mädchen ließen bei der Begrüßung ein kleines Lächeln aufblitzen und manche der coolen Jungs klatschten mich sogar ab. Das Blöde daran war: ich nahm mir die Rolle selbst nicht ab. Ich war unsicher, wie ich mit wem sprechen sollte und vor allem worüber. Ich fragte mich andauernd, was die anderen über mich dachten. Und ich war vollkommen planlos, wie ich ein Mädchen dazu bringen konnte, mich endlich von meiner schmerzhaften Unberührtheit zu erlösen. Da ich keine Strategie hatte,