Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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Ich musste mir Gewissheit verschaffen. Über mich. Über den Sommer 95. Ich musste hierher kommen. Auf die Bank. Auf den Deich. Wo sie mich gefunden haben. Und an dem Abend, am 30. Juni, wurde mir das endlich klar.

       Ich betrat also spätabends unser Treppenhaus, holte die Post aus dem Briefkasten und begann meinen Aufstieg ins Dachgeschoss. Zwischen Werbeprospekten und offiziell aussehenden Schreiben fiel mir ein handgeschriebener Brief auf. Ein schmuckloser weißer Umschlag ohne Absender. Adressiert war er an mich. Im Innern befand sich ein sauber gefalteter Zettel. Ich faltete ihn auf und las die kurze Nachricht, die aus einem Datum und einem Imperativ bestand: „28. 7. 2010 - Komm!“.

       Während ich das Treppenhaus hinaufstolperte, drehte ich das Blatt drei oder viermal hin und her, aber das war alles. Also - nicht, dass mir diese Nachricht nicht ausgereicht hätte. Ich verstand sehr gut. Aber wer von den beiden hatte den Brief geschickt? Liv? Oder Paco? Und warum anonym?

       Ich wollte mir den Umschlag gerade genauer ansehen, da öffnete sich zu meiner Rechten eine Wohnungstür. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich erschrak. Einen kurzen, unheimlichen Moment lang schien es mir, als wären alle Geräusche im Treppenhaus mit einem Schlag verschwunden. Die Türöffnung wurde immer größer und wie in Zeitlupe trat ein Schatten auf die Schwelle. Dann kehrte der Sound zurück, das Tempo zog an und mit einem großen Satz landete der Hase direkt vor mir auf beiden Füßen, rollte sich über die linke Schulter ab und setzte sich auf die Stufen nach oben. Sein Oberkörper pendelte von links nach rechts, er blickte mir direkt in die Augen und ich sah, dass er am Rande einer Panik stand.

      „Peter!“, rief er. „Bist du Peter??“

       Ich war so erschrocken, dass ich nichts anderes sagen konnte als „Ja.“ Er starrte mich an. Ich starrte ihn an. Er schien nicht wirklich zu begreifen. Also beugte ich mich zu ihm runter und sagte so sanft wie möglich: „Peter. Ich bin Peter.“

       Das funktionierte. Die Gesichtszüge des Hasen entspannten sich. Er lächelte. Ich lächelte. Dann sprang er mit einem Satz auf die Beine und nahm mich in den Arm.

      „Peter“, flüsterte er kaum hörbar in mein Ohr. Und dann noch einmal wie zu sich selbst „Peter“. Dann bückte er sich urplötzlich und hob die Nachricht auf, die aus dem Umschlag gefallen sein musste. Mit einem kleinen Sprung war er zurück in seinem Türrahmen und hielt mir den Zettel hin. Als hätte er ihn gelesen sagte er nur: „Komm.“

       In seiner Küche versuchte mir der Hase in seiner üblichen pendelnden Sitzhaltung zu erklären, was geschehen war. Er mache seit einigen Monaten eine Therapie. „Doktor ist nicht zufrieden“, erklärte er. „Doktor sagt, muss ich loslassen im Kopf. Aber ich verstehe nicht. Wie kannst du lassen, was ist in dir drin? Wenn du lässt, ist immer noch in dir drin, oder?“

       Er blickte mir forschend ins Gesicht und so nickte ich zustimmend. Der Hase lächelte. „Ich wusste, du verstehst, Peter.“

       Heute Abend hatte der Hase auf Anweisung seines Arztes versucht, vor dem Schlafengehen eine Stunde lang still im Sessel zu sitzen.

      „Hab ich probiert, Peter, wirklich. Hab ich gesessen wie Stein für dreißig Minuten. Nicht gedacht. Nicht gefühlt. Hab ich losgelassen. Aber dann hab ich gehört. Da waren die Schritte. Im Treppenhaus. So spät. Hab ich gedacht - ist vielleicht Peter. Aber hab ich nicht gefühlt. Was, wenn ist nicht Peter? Wenn ist jemand Übles? Wenn ausgerechnet jetzt kommt zu mir und ich bin Stein und bin nicht Hase. Verstehst du? Bin ich gesprungen. Zuerst in Ecke. Dann Wohnzimmer. Dann Treppenhaus. Konnte ich nicht loslassen.“ Er blickte mich durchdringend an. Dann schlich sich ein Lächeln in seine Mundwinkel. „Aber bist du wirklich Peter.“ Er grinste.

       Ohne weitere Worte sprang er auf, hüpfte den Flur entlang und öffnete die Wohnungstür. Er hatte gesagt, was er sagen wollte und ich war froh, ins Bett zu kommen. Bevor ich ging hielt ich ihn an der Schulter fest.

      „Alles in Ordnung?“

       Er lächelte breit.

      „Alles in Ordnung Peter. Doktor versteht nicht. Was ist in deinem Kopf, ist in deinem Kopf.“

       Wieder blickte er mir genau in die Augen und ich hatte das Gefühl, als spräche er gar nicht über sich, sondern von mir. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken tippte er auf den Brief, den ich vor meiner Brust hielt und sagte.

      „Du kannst nicht loslassen, was ist in deinem Kopf. Du bist Peter. Wenn du gehen musst, du musst gehen.“

       Verwirrt trat ich ins Treppenhaus und sagte: „Ja. Vielleicht muss ich das wirklich.“ Aber er hatte die Tür schon zugeklappt. Eine halbe Treppe tiefer blickte jemand zu mir hinauf. Es war Maja, die gerade erst nach Hause kam.

      „Was musst du?“

      „Gehen“, sagte ich ganz automatisch.

      „Gehen? Wohin denn?“

      „Ich…“, fing ich an, aber mir fiel nicht ein, wie es weitergehen sollte. Ich schüttelte mich kurz und fand meine Fassung wieder.

      „Nichts. Er hatte Panik, als er mich im Treppenhaus gehört hat. Aber jetzt ist alles wieder gut. Und jetzt muss ich eben gehen.“

       Ich lächelte und verdrehte die Augen, um zu unterstreichen, wie absurd die ganze Situation war. Aber Maja lächelte nicht. Und genau in dem Moment hatte ich den Eindruck, sie wüsste ganz genau wohin ich gehen musste.

       Wenn ich jetzt darüber nachdenke, haben Sie wohl recht - woher hätte sie das wissen sollen? Ich glaube, es wäre wirklich gut, wenn Maja irgendwann die ganze Geschichte erfährt. Ich weiß nur nicht, ob ich ihr das alles erzählen kann. Aber vielleicht machen Sie das? Sie könnten ihr einfach meine Akte zeigen. Den ganzen Text. Diese Zeilen. Irgendwann. Wenn alles wieder seinen Gang geht.

       Welchen Gang alles wieder gehen soll, weiß ich noch nicht. Aber ich tue was ich kann, um das herauszukriegen. Das Schreiben ist mir dabei momentan das Wichtigste. Ich könnte auch damit aufhören und mit Ihnen über alles reden - auch wenn diese Liege in Ihrem Zimmer sehr viel weniger einladend wirkt als die Sofas, die man im Fernsehen bei Therapeuten sieht. Aber das ist nicht dasselbe. Ich kann sprechen, aber ich will es nicht. Noch nicht. Ich fürchte, dann alles auf einmal erklären zu wollen. Dabei habe ich es selbst noch nicht verstanden.

       Ich denke, es liegt auch an diesem Zimmer. An der Aussicht. Wenn ich hier sitze, an dem kleinen Tisch vor dem Fenster, dann spüre ich Ruhe in mir. Eine Ruhe, die mir in meinem Alltag abhandengekommen ist. Niemand kommt rein. Niemand will etwas von mir. Dazu liegt mein Schweigen wie eine Schutzglocke über diesen Raum. Ich habe Zeit nachzudenken und auszuwählen, was ich Ihnen erzähle und wie ich es erzähle.

      Neues Land

      Im Frühjahr 1995 war ich siebzehn Jahre alt, hatte die gleichen Schulprobleme wie im Jahr zuvor und nach wie vor keine Ahnung, wie ich meine quälende Jungfräulichkeit loswerden könnte. Ich war immer noch nicht besonders groß, nicht besonders gut aussehend, nicht besonders schlau und gelangte dennoch mehr und mehr zu der Überzeugung, das Universum könnte vielleicht am Ende doch irgendetwas Gutes mit mir vorhaben.

      Neben der Tatsache, dass ich tatsächlich gewachsen war, fühlte ich mich auch größer als im Vorjahr. Ich drückte meine Brust raus beim Laufen und hob meinen Kopf. Die zahllosen Pickel, die mittlerweile auf meiner Stirn und an den Wangen heimisch geworden waren, trug ich mit Stolz, als Zeichen meiner unaufhaltsamen Mannwerdung. Bartstoppeln als Zeichen wären mir lieber gewesen, aber das konnte ja noch kommen. Wie ich mittlerweile wusste, war mein Vater 1,88m groß gewesen. Diese Marke setzte ich mir als Ziel und hoffte insgeheim, sie noch zu übertreffen.

      Ein Grund für meine gestiegene Zuversicht lag tatsächlich in der verachtenswerten Streberveranstaltung. Der JuFo-Wettbewerb hatte mir einen Schub