Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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größeren Konkurrenz wieder gewonnen. Diesen Sieg konnte ich noch weniger fassen, als den vorherigen. Nicht, dass es für unseren Erfolg keine nachvollziehbaren Gründe gegeben hätte. Durch den Sandkasten lieferten wir einen Beitrag zur aktuellen Hochwasserproblematik, wir hatten tatsächlich ein paar Zusammenhänge zwischen Gefälle, Wasserdruck und Ausbildung der Mäander beweisen können und unsere Arbeit war formal einwandfrei. Was mich verblüffte war: der Grund für unseren Erfolg lag nicht in unserer Forschung, sondern ganz offensichtlich in unserer Show. Und damit zu einem Großteil in meinem Auftritt als niedlich-naiv plapperndes Vorstadt-Kid. Das war es, was die Jury für uns einnahm.

      Wie Basti es vorgeschlagen hatte, war die Geschichte noch lebendiger geworden. Die Oma hieß jetzt Hedwig, ein Name, der uns zwar alt, aber nicht so klischeebelastet erschien. Sie hatte seit Wochen ihr Leibgericht, Reibekuchen, nicht mehr essen können, da ihr Kartoffelkeller, der den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, den Fluten unseres Kleinstadtflüsschens zum Opfer gefallen war. Und ihre niedlichen Enkel grübelten bei einer Busfahrt darüber nach, wie sie das Problem ihrer Oma für künftige Generationen lösen könnten. Das mit dem Zweiten Weltkrieg enttarnte ich als scherzhafte Übertreibung und die Jury lachte. Im Gegenzug nahmen sie mir den Rest der Story gerne ab.

      Unsere Geschichte wog schwerer als all die Fakten, die unsere Konkurrenten in sachlichen Vorträgen vor der Jury aufstapelten. Die Leichtgläubigkeit der Erwachsenen und ihr offensichtliches Bedürfnis, eine schöne Geschichte erzählt zu bekommen, verblüfften und erfreuten mich. Genauso, wie meine Rolle dabei.

      Die Kombination aus geschickt gewähltem Thema, grundsolider Empirie und unserer Performance brachte uns schließlich nach Köln zum Bundeswettbewerb der Jungen Forscher. Auch hier schien unser Zauber zu wirken und wir landeten auf einem, nicht mal von Herrn Böttcher erwarteten, fünften Platz.

      Auf dem Foto mit allen Preisträgern, das meine Mutter aus dem Lokalteil der Zeitung ausgeschnitten hatte, lächeln wir ungläubig neben jungen Genies, die komplizierte Geräte wie Gezeitengravimeter entwickelt hatten oder die Erosionsgefahr im Oberweser Bergland bekämpften. Genau neben mir, im Zentrum des Bildes, steht ein riesiger Mann, der damalige Bundeskanzler, dem ich beim Reden gerade so über die Schulter, oder besser gesagt, am Oberarm vorbei, hatte sehen können. Ich erinnere mich, dass er frei formulierte und unterstützt von kleinen Stichpunktzetteln durch einen Text navigierte, der von muffigen Schulräumen zu den Laboren künftiger Einsteins führte. Nach ungefähr zehn Minuten hielt er plötzlich inne, blickte irritiert in seine Hände und ich konnte erkennen, dass er ganz oben wieder das Kärtchen über die muffigen Klassenräume hielt, das erste seiner Rede. Er ließ die Zettel kurz in seinen teigigen Händen vor- und zurückwandern, ohne neue Informationen zu finden, schob die Karten schließlich zusammen und legte die Hände auf seinem enormen Bauch ab. Ich rechnete mit einem entschuldigenden Satz und erwartete jeden Moment einen unglücksseligen Assistenten auf der Bühne, der mit schuldvollem Stammeln die fehlenden Karteikärtchen brächte, doch nichts dergleichen geschah. Noch bevor die Stille in Raum unbehaglich wurde, setzte der große, dicke Mann sein breitestes Lächeln auf, blickte entspannt in die Kameras und begann von der Küche seiner Mutter zu erzählen. Die Verbindung zu den bisherigen Sätzen seiner Rede zimmerte er hölzern über einen jungen Spenglermeister hin. Mit unglaublichem Erfindergeist habe der aus alten Munitionskisten aus dem Krieg, ein Podest für Herd, Schränke und Arbeitsplatten der Mutter gebastelt, denn diese sei, was niemanden überraschen möge, eine ungewöhnlich große Frau gewesen und habe vom ständigen Gebücke, böse unter Rückenschmerzen gelitten. Das Publikum lachte. In meinen Ohren machte die Geschichte wenig Sinn - was auch immer ein Spengler genau war, mit Holz hatte er meiner Meinung nach wenig zu tun. Und nebenbei löste dieser Typ auch noch die orthopädischen Probleme der Mutter eines künftigen Kanzlers? - aber um mich herum sah ich nichts als glückliche Gesichter. Niemand außer mir schien an der Geschichte irgendetwas unglaubwürdig zu finden. Und wenn doch, so war es allen egal. Das Publikum war einfach dankbar für die persönliche Anekdote. Und als der Kanzler seine Rede mit der absurden Aufforderung beendete, wir alle - und ich glaube er meinte mindestens alle Menschen in Deutschland, wenn nicht sogar der ganzen Welt - sollen sein wie der Spengler, gab es begeisterten Applaus. Nach kurzem Zögern fiel ich selbst mit ein. Nur war ich wohl der einzige im Raum, der nicht der Geschichte selbst applaudierte. Ich honorierte die Improvisationsleistung des Kanzlers und war wieder einmal verblüfft, welch starke Wirkung eine meisterhafte Schauspieleinlage erzielen konnte.

      Nach und nach gelang es mir, ein wenig von diesem Zauber in meinen Alltag hineinzutragen. Meine Unwissenheit in Latein versteckte ich hinter einer Maske aus gelangweilter Gleichgültigkeit. Dadurch verstand ich zwar nicht eine Silbe mehr von der toten Sprache, doch es führte verblüffenderweise dazu, dass ich weniger oft an die Tafel musste. Meine Angst vor den Schulrowdies überspielte ich mit einem irren Starren, dass ich mit Bastis Hilfe auf der Busfahrt zum Schwimmunterricht einstudiert hatte und sogar meine Schüchternheit in Gegenwart weiblicher Wesen, bekam ich besser in den Griff. Wenn ich nicht wusste was oder wie ich überhaupt etwas sagen sollte, starrte ich einfach angestrengt in die Ferne. Ich hoffte, dadurch nachdenklich oder gedankenverloren zu wirken. Das fand ich besser, als wie ein Volltrottel vor mich hin zu stottern. Von all meinen neuen Methoden funktionierte das zwar noch am schlechtesten und ich musste immer wieder Rückschläge hinnehmen, aber zumindest reichte es aus, um mich mit Simone Arndt fürs Kino zu verabreden.

      Ich habe überlegt, ob diese Geschichte für Sie überhaupt interessant ist. Schließlich geht jeder 17-jährige doch irgendwann mal mit irgendeiner Simone ins Kino, ohne dass daraus gleich ein Fall für die Abendnachrichten wird. Objektiv gesehen hatte auch unser Kinobesuch keine erderschütternden Folgen. Es gab keinen Vulkanausbruch, keine Lavaströme. Die Landmassen um mich herum blieben an Ort und Stelle.

      Und doch wirkte danach alles verändert. Es war, als hätte ich einen Gipfel erklommen und ein unbekanntes Tal entdeckt, das dahinter lag. Es sah vollkommen anders aus als alles, was ich bisher kannte: schön, wild, fremd und vor allem beängstigend.

      Ich habe oft gedacht, wenn ich mich gleich am Anfang ein wenig weiter in dieses Tal hinein getraut hätte, dann wäre die Geschichte mit Liv vielleicht anders gelaufen. Ich hätte es einfach riskieren sollen. Voll reinstürzen. Und wenn ich irgendwo runtergefallen wäre - egal. Aber so bin ich nach wenigen Schritten umgekehrt und habe versucht, vom sicheren Gipfel aus alles zu verstehen. Ich muss zugeben, dass ich jetzt vielleicht wirklich etwas verwirrt klinge. Also der Reihe nach.

      Simone Arndt war eine der Fluppen. So nannten wir die etwa zehn bis fünfzehn Mädchen, die in jeder Hofpause hinter der Turnhalle standen und rauchten. Die Besetzung der Gruppe wechselte ständig. Jahr für Jahr dezimierte der Schulabschluss die verrauchten Reihen gnadenlos, aber immer wieder kamen neue storchenbeinige Sechzehnjährige nach, die sich mit feuchten Augen durch die Aufnahmezigarette husteten. Viele von ihnen verschwanden kurz darauf wieder in der formlosen Masse des Schulhofs, andere standen an einem Tag in der Raucherecke am anderen nicht, aber ein kleiner Teil der Mädchen war praktisch immer da. Zu dieser Gruppe gehörte auch Simone Arndt.

      Simone war ein Jahr jünger als ich und ich kannte sie schon seit der Grundschule. Wir waren nicht befreundet. Ich wusste eben wer sie war. Ihre ältere Schwester Steffi war in der Grundschule noch ein Jahr über mir und ging mittlerweile in meine Parallelklasse. Die Familie wohnte in der Neubausiedlung direkt hinter unseren Hochhäusern. Wenn man sich auf Bastis Balkon etwas vorreckte, konnte man das Haus gut sehen. Mit dem weinroten Ziegeldach, dem gepflegten Rasen, dem Carport für den Polo von Frau Arndt und der Garage für Herrn Arndts Mercedes, sah das Zuhause der Familie toll aus. Aber anscheinend war es nicht so toll. Simone und Steffi waren eigentlich immer unterwegs. Jede von ihnen hatte eine feste Clique und wenn bei keiner ihrer Freundinnen irgendwas los war, hingen die Schwestern zusammen in der Stadt rum oder fuhren rauchend mit Steffis uraltem, blauen Renault 4CV durch die Gegend. Für Basti war die Familie ein klassischer Fall. „Zu viel Geld - zu wenig Hirn. Die Alten Spießer - die Kinder Hippies.“ Möglich, dass er recht hatte.

      Nur dass mit dem Hirn stimmte meiner Meinung nach nicht ganz - zumindest bei Simone. Zum einen las sie Salinger und Kerouac und all diesen Kram und zum anderen - und das war für mich das überzeugendere Argument - trug sie T-Shirts von New Model Army und den Ärzten. Wer die Ärzte hörte, konnte nicht vollständig blöd sein.