Jochen Ruderer

Zwei Sommer


Скачать книгу

Spieltagen mitgeschleppt. Zum einen, weil sie nicht wusste, wo sie mich hätte unterbringen sollen. Zum anderen hatte sie wohl die Hoffnung, dadurch ein kleines Genie aus mir zu machen. Ich sah das in ihrer anfänglichen Begeisterung, wenn es mir gelang, einen deutlich älteren Gegner zu schlagen. Vor allem aber bemerkte ich es in der stillen Enttäuschung, wenn ich vollkommen chancenlos unterging. Es schien beim Schach eine Art unsichtbare Grenze für mich zu geben, über die ich niemals hinauskam. Meine Mutter operierte jenseits dieser Grenze. Sie spielte ein ganz anderes Spiel, zu dem ich keinen Zugang fand. Ich verlor immer gegen sie. Und es gehörte zu ihren unumstößlichen Erziehungsprinzipien, mich niemals absichtlich gewinnen zu lassen.

      Normalerweise nutzte ich die Stunden, in denen meine Mutter beim Schach war, um mit Basti Musik zu hören oder mal in Ruhe fernzusehen, aber an diesem Tag gab es einen guten Grund, sie zu begleiten. Das Match fand im Gemeindezentrum eines Dorfes statt, in dem es ein Kino gab, das Filme ausschließlich im englischen Original zeigte. Meine Mutter liebte diesen Ort und da ich die Sprache weitaus besser verstand als Latein oder die positionellen Schwächen meiner Bauernstruktur, sahen wir uns manchmal gemeinsam einen Film an.

      An diesem Samstag wurde „Stargate“ gespielt, der neue Film von Roland Emmerich. Meine Mutter machte sich nichts aus Science-Fiction, aber sie kannte die Schwester des Regisseurs von früher und sah sich deswegen alle seine Filme an.

      Während meine Mutter verbissen damit beschäftigt war, die Tabellenführung der Universitätsmannschaft zu verteidigen, verlor ich zuerst drei Freundschaftspartien gegen einen Zwölfjährigen und dann die Lust am Spielen. Ich gratulierte artig, verließ das Gemeindezentrum und setzte mich auf eine Bank vor dem Haus ohne einen größeren Plan, was ich dort tun sollte. Ich hatte noch keine zwei Sekunden gesessen, da sprach mich jemand von der Seite an.

      „Ach nee. Der Boltenhagen. Was machstn du hier? Bist du bei diesem Schachdings?“

      Ich blickte auf und vor mir stand Simones Schwester Steffi. Natürlich rauchte sie. Natürlich war sie geschminkt als würde sie gleich auf eine Party gehen und natürlich hatte sie Simone im Schlepptau.

      „Schachdings?“ wiederholte ich.

      „Na da drin ist doch son Turnier, oder?“

      „Ach so, ja.“ Ich spielte den Ahnungslosen. „Die spielen da drin Schach, ja. Aber ich bin ja hier draußen.“

      „Stimmt“, grinste Steffi und zog an ihrer Zigarette. „Du bist hier draußen.“

      Simone klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte und kam zu uns rüber.

      „Und was machst du dann hier?“

      „Haste doch gehört.“ Steffi lachte. „Er ist hier draußen. Hat mit dem Schachturnier gar nix zu tun.“

      „Wirklich“, beeilte ich mich zu erklären. „Ich… bin nur hier weil…wir gehen ins Kino.“

      Steffi lachte laut auf. „Oh Kino. Wie cool. Na dann viel Spaß!“ Sie schnippte ihre Kippe auf den Boden, trat mit der Fußspitze drauf und ging in Richtung Straße davon. Simone blieb vor mir stehen.

      „Ist heute wieder diese De Niro-Reihe?“

      „Ääh…was?“

      „Na die zeigen doch gerade ständig Filme mit Robert De Niro. Hier. Den hab ich letzte Woche gesehen.“

      Sie hielt mir ihr Buch hin. Nicholas Pileggi. Der Mob von innen: ein Mafioso packt aus.

      Ich blickte sie verständnislos an.

      „Kenn ich nicht.“ Um nicht völlig ahnungslos zu wirken, fügte ich hinzu. „Also…ich hab Taxi Driver gesehen und Good Fellas. Aber den kenn ich nicht.“

      Simone lächelte. „Das IST Good Fellas. Also die Vorlage. Der Roman.“

      „Ach so….das ist… wusste gar nicht, dass es dazu ein Buch gibt. Ich dachte dieser Mafioso hätte wirklich gelebt.“

      Wieder lächelte Simone. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirkte sie nicht spöttisch oder feindselig.

      „Das stimmt ja auch. Dieser Pileggi hat eben über einen echten Fall geschrieben. Sozusagen als Inspiration.“

      „Ach so“, sagte ich. Und diesmal musste ich auch lächeln.

      „Und?“ fragte Simone.

      „Und was?“

      „Na guckst du De Niro?“

      „Ach so. Nein. Stargate. Science-Fiction. Da spielt de Niro bestimmt nicht mit.“

      „Nein“, grinste Simone. „De Niro hat ein bisschen mehr Klasse. Mit wem gehst du?“

      Steffi rief von der anderen Straßenseite rüber. Ich blickte zwischen den Schwestern hin und her.

      „Ich glaub Steffi will los“, sagte ich schnell.

      „Oh ja. Wir wollen rüber zu den Ammies. So ein Soldat hat Steffi zum Bowling eingeladen. Sie wollte unbedingt, dass ich mitkomme.“

      „Oh. Klingt toll.“

      Simone rollte mit den Augen.

      „Bowling ist absolut bescheuert. Findet Steffi auch. Aber deswegen ist sie ja auch nicht hier, verstehst du?“

      Sie zwinkerte. Ich nickte. Steffi rief.

      „OK. Ich muss. Wenn du willst kannst du das Buch gerne mal ausleihen. Aber ich sag’s nicht gern: der Film ist besser. Im Buch fehlt De Niro.“

      „Klar“, stammelte ich. „Gern.“

      Sie streckte mir das Buch hin. „Weißt du was? Nimm’s einfach gleich. Ich bin eh fast durch.“

      Ich nahm es, hielt das Buch aber mit ausgestrecktem Arm von mir weg.

      „Willst du es nicht erst fertig lesen?“

      Aber Simone war schon ein paar Meter weiter gelaufen.

      „Ach was. Ich weiß eh wie es ausgeht. Und ohne De Niro macht es keinen richtigen Spaß. Wir sehen uns.“

      Sie überquerte die Straße und ging einfach an ihrer Schwester vorbei, die lachend auf sie einredete und ihr dann folgte.

      „Cool“, murmelte ich vor mich hin und blickte auf das Cover auf dem sich zwei Hände kreuzten, die beide eine Pistole hielten und je einen imaginären Gegenüber außerhalb des Bildrands bedrohten. „Wir sehen uns.“

      Meiner Meinung nach irrte sich Simone. Das Buch war kein Meilenstein der Literaturgeschichte, aber es war gut. Es hatte Spannung, gute Sprüche, coole Gangster und es hatte De Niro. Man konnte ihn nicht sehen oder hören, aber gerade wenn man den Film kannte, war er überall in dem Buch. Es lag völlig auf der Hand, warum der Regisseur ihn für den Film ausgewählt hatte. Und Liotta, mit seinen glasigen Augen. Ich sah sein verlorenes Gesicht beim Lesen bildhaft vor mir. Ich bin ein durchschnittlicher Niemand. Ich werde den Rest meines Lebens wie irgendein Trottel verbringen. Das gefiel mir. Das kannte ich.

      Am Montag in der großen Pause stattete ich den Fluppen den ersten Besuch meines Lebens ab. Ich hielt das Buch deutlich sichtbar in der Hand und hob es sogar etwas in die Höhe, als mich die ersten kritischen Blicke der rauchenden Mädchen trafen. Es war mein Kruzifix, meine Eintrittskarte, meine Berechtigung, mich dem Haufen zu nähern.

      Als sie mich sah, löste sich Simone sofort aus der Gruppe und kam zwei Schritte auf mich zu.

      „Ich bringe das Buch zurück, das ich mir geliehen habe“, sagte ich dabei so laut, dass möglichst viele der Mädels es hören konnten. Tatsächlich schien damit für die anderen alles geklärt. Sie ließen ihre Blicke sinken und konzentrierten sich ganz darauf, weiter ihre Fußspitzen anzustarren und dabei aus den Mundwinkeln Gespräche zu führen. Simone musterte mich mit einem forschenden Blick.

      „Bringst du mir echt das Buch schon zurück?“

      „Naja. Es gehört doch dir.“

      Simone