Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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Katastrophe entgangen. Der einzige Überlebende eines Schiffbruchs. Das Gefühl war beängstigend, aber auch gut. Ich war hier. Ich war heil. Wir hatten’s gepackt.

      Basti legte zum x-ten Mal den Arm um mich und flüsterte mir zu:

      „Wir haben gewonnen, Pete. Gewonnen.“

      „Ich weiß“, flüsterte ich zurück.

      Basti nahm den Kopf ein wenig zurück und blickte mir forschend ins Gesicht.

      „Du siehst aber nicht so aus, als ob du das wüsstest.“

      „Es ist nur…“, fing ich an. Dann blickte ich Basti in die Augen und musste unwillkürlich grinsen. „Ich dachte, ich hab’s verkackt, Mann. Ich dachte, mit dieser bescheuerten Geschichte hab ich uns alles versaut.“

      Basti strahlte.

      „Quatsch, Mann. Die fanden die Geschichte obergut. Die beiden Wasserratten aus dem Hochhaus auf dem Weg durch den Regen. Wegen dieser geilen Geschichte haben wir überhaupt gewonnen. Du hast es nicht verkackt. Du hast es gebracht, Mann.“

      „Meinst Du?“, fragte ich und grinste noch mehr.

      „Na klar. Das war authentisch. Da gab’s Plattenbau, Musik und sogar ne abgesoffene Omma. Das war the real shit. Auf sowas stehen Akademiker.“

      „Ja“, sagte ich. „Das war cool“. Und in dem Moment spürte ich, wie etwas von mir abfiel. Druck oder Stress oder was-weiß-ich. Ich fühlte mich leichter und größer und stärker und schaffte es endlich, mich einfach nur zu freuen. Freuen über unseren Sieg. Freuen über die Anerkennung. Freuen über meine verrückte Geschichte.

      „Und beim Landeswettbewerb erzählst du die Story gleich nochmal“, lachte Basti.

      „Aber nicht, das mit der Oma?“, fragte ich erschrocken.

      „Unbedingt das mit der Oma. Diesmal kriegt sie noch einen lustigen Namen, einen ulkigen Hut und ein chronisches Rückenleiden dazu. Und aus dem Regen machen wir ein Gewitter.“

      „Nein“, lachte ich. „Finger weg vom Regen. Der Regen bleibt.“

      St. Peter-Ording, Dienstag, 3. August 2010

       Nachdem Sie in unserer Sitzung am Vormittag auf so viele Details meines Berichtes eingegangen sind, möchte ich gerne zugeben, dass ich vielleicht an manchen Stellen ein bisschen was hinzugedichtet habe. Also nicht wirklich erfunden oder so. Aber ob ich jeden Satz genau so gesagt habe oder ob Katrin Morgentaler vielleicht etwas mehr nach Pfirsich gerochen hat, als nach Aprikose, das weiß ich nicht mehr genau.

       Aber ich weiß, dass Sie Ihren Job gut machen, Frau Doktor. Ich will mich nicht einschmeicheln. Es ist mehr weil - Sie haben sich überhaupt nicht in die Karten gucken lassen. Das finde ich gut. Ich kann wirklich nicht sagen, ob Ihnen jetzt gefällt, was Sie da gelesen haben oder nicht. Ob es uns vorwärts bringt oder nicht. Ob ich so weiter machen soll oder nicht. Sie lassen das erstmal so stehen. Wertfrei. Das ist professionell.

       Aber meine Mutter. Das hat Sie interessiert. Das habe ich dann doch bemerkt. Ob ich mich ihr damals nah gefühlt habe? Ob ich mich ihr jetzt nah fühle? Was sie mir bedeute? Das haben Sie gefragt. Darüber wollen Sie mehr wissen.

       Aber ich fand das jetzt nicht aufdringlich. Sie haben ganz selbstverständlich gefragt. Ganz natürlich. Und es war OK, dass ich nicht geantwortet habe. Sie lassen mich machen. Ich hab keine Ahnung, ob Sie das aus einem Lehrbuch haben oder so. Aber für mich ist das gut.

       Natürlich wollen Sie mehr darüber wissen, wie ich hierher gekommen bin. Das ist mir klar. Warum Maja mich als vermisst gemeldet hat. Also… meine Freundin. Das wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, bis Sie es gestern erwähnt haben. Aber natürlich, wenn einer einfach so verschwindet. Obwohl ich ihr ja diese Nachricht geschrieben habe, dass alles in Ordnung sei. Aber vielleicht hat sie das nur noch mehr verwirrt. Bitte erzählen Sie ihr irgendetwas Tröstliches. Irgendeine Diagnose. Sie kann das alles gar nicht verstehen. Aber ich kann ihr das auch nicht erklären. Also nicht jetzt. Wobei ich eigentlich dachte, Maja hätte etwas gemerkt. An dem Abend als ich den Brief bekommen habe. Und sie uns im Treppenhaus getroffen hatte. Mich und den Hasen.

       Am 30. Juni kam ich ziemlich spät nach Hause. Ich war gegen 7:30 Uhr zur Arbeit gefahren, hatte die erste Hälfte des Tages lesend, die zweite schreibend verbracht und die Kanzlei um 19 Uhr verlassen. Um 19:30 stand ein Abendessen mit Dr. Lang und seiner Frau an. Maja hatte keine Lust auf ein „getarntes Arbeitsessen, bei dem ich Beate unterhalten soll“ und mir schon Wochen zuvor abgesagt. Meinem Chef erzählte ich erst am Abend etwas von plötzlichem Unwohlsein. Er war ganz offensichtlich enttäuscht, fügte sich aber mit einem kraftlosen Kopfnicken und einem Seitenblick auf seine Frau in sein Schicksal.

      „Die Gesundheit ist das allerwichtigste“, flötete Beate Lang übertrieben heiter über den Tisch. „Gerade in Majas Alter ist es für eine Frau besonders wichtig, auf die Zeichen des Körpers zu achten. Wer weiß, was er euch sagen will… euch beiden.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. Gut, dass Maja nicht mitgekommen war.

       Dr. Lang blickte entrückt in Richtung Tür, hob entschuldigend die Schultern und während er im Verlauf der Konversation auf seinem Stuhl langsam immer kleiner wurde, wuchs seine Frau stetig in Richtung Zimmerdecke.

       Am Ende gehörte ihr der ganze Abend. In Ermangelung eines anderen Ansprechpartners erzählte sie mir alles über die Erfüllung, die ihr die Mutterrolle gebracht hatte, wie schwer - aber auch lehrreich - es gewesen sei „loszulassen“ und wie sehr sie sich wünsche, möglichst bald Großmutter zu werden. Je mehr Wein sie trank, desto lauter wurde sie und weil ich aus vergangenen Treffen wusste, dass das für alle Anwesenden unangenehm enden könnte, bemühte ich mich, sie mit gezielten kleinen Fragen zum Weiterreden zu bringen, wann immer sie zum Glas greifen wollte. Dr. Lang unterstützte mich, indem er einen großen Teil des für Beate so gefährlichen Rebensaftes während ihrer Monologe, mit bewundernswerter Opferbereitschaft höchstselbst vernichtete. Wie immer arbeitete er konzentriert, effektiv und gründlich. Den ganzen Abend hindurch sprach er nicht mehr als drei oder vier Sätze. Als mich die beiden zum Abschied übermütig an die jeweilige Brust zogen, fühlte er sich deutlich wackliger an als sie. Sein Blick war trüb. Es fiel ihm schwer mir in die Augen zu sehen. Doch das Lächeln um seine Mundwinkel bedeutete mir, dass er zufrieden mit uns beiden war. Ich hatte mir brav alles über Stoffwindeln, Milchstau und Homöopathie angehört, er hatte seine Niere gründlich durchspült und niemand war unter Heulkrämpfen in den Ficus gestürzt oder rückwärts im Springbrunnen gelandet.

       Ich kam in einer eigenartig melancholischen Stimmung zu Hause an. Möglich, dass auch ich mehr getrunken hatte, als mir gut tat, aber es lag auch an Beates Auftritt. Sicher - Beate war schräg und exzentrisch. Beate war alt und frustriert. Beate war dekadent und unverschämt reich. Aber sie tat mir leid. Ihre Trauer über die verlorene Mutterrolle war echt und berührte mich. Ihre Kinder waren weg und Beate hatte ihre Lebensaufgabe verloren. Und nach zwanzig Jahren zu Hause, hatte sie keine Idee, was als nächstes kommen könnte.

       Natürlich musste ich dabei an Maja denken. Maja tat mir auch leid. Sie hatte zwar unbestritten sehr viele Ideen, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte, aber mehr als alles andere, sehnte sie sich nach dem, was Beate verloren hatte. Sie wollte ein Kind.

       Nur ich wollte nicht. Ich kann nicht so genau benennen warum. Natürlich werden Sie als Fachfrau meine Vaterlosigkeit als Erklärung anführen. Tun Sie das ruhig. Ich glaube, das ist es nicht. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann eher den, dass beides keine übermäßig große Rolle für mich gespielt hat. Ich hatte keinen Vater. Ich hatte kein Kind. Ich will gar nicht sagen, dass mir ein Vater nie gefehlt hätte. Aber eine Tochter oder ein Sohn haben mir bisher tatsächlich nie gefehlt. Ich glaube, man kann ein fehlendes Elternteil nicht durch ein Kind ersetzen.

       Aber es gab noch etwas, was zwischen mir und einem