Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.


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in der Lage, einen hungrigen Bauch zu stopfen und einen frierenden Leib zu wärmen. Uns verwöhnten Europäern fehlten hier zwar die kleinen Ikonen der zivilisierten Welt, aber Hunger und Kälte quälten uns nie.

      Solange ich hier stehe, wird er nicht essen, überlegte ich, ohne zu wissen, was zu tun war. Auf der Straße fielen Schüsse. Hier ballerte man von früh bis spät. Keiner von uns kam dahinter, was das sollte oder wem die Schüsse galten. Der Krieg tobte in dieser Zeit in den entfernteren Provinzen Cuando Cubango, Huambo, Moxico und, wie man erzählte, auch im Nordosten bei den Diamantenminen. Carlos zuckte nicht einmal. Ich aber schimpfte in die Dunkelheit: »Diese Idioten! Dieses Imponiergehabe!«

      Berechenbar waren die Waffenträger in der Tat nicht. Der Junge aber blieb ungerührt stehen und ich fragte ihn so nebenbei, wie oft die Mumuila mit ihren Waren in dieses Haus kämen.

      »Mais o menos«, sagte er und seine Stimme versetzte mich nicht zum ersten Mal in Staunen. Nur vier Silben, aber sie klangen melodiös wie ein Lied. Es war zu dunkel, um sein Gesicht genau zu sehen. Nur der Luftzug, der mir seinen Geruch in die Nase trieb, kündete vom Fuchteln seiner Arme. Es schien, als bete auch er — wie Ngula zuvor — und er sagte etwas, wovon ich nur ein Wort im Wörterbuch wiederfand: Mahamba. Die Götter der Ahnen.

      Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass im Glauben der Naturvölker die Götter der Ahnen einen nahen Tod voraussagten. Dennoch gefiel mir zum ersten Mal die Dunkelheit. Sie verschluckte mein Lächeln, nicht jenes über den Glauben, wohl aber jenes über die Freude, die ich mir selbst bereitet hatte. Carlos stieß seinen hitzigen Atem von sich, setzte sich endlich auf den schmutzigen Beton der Vorhalle und grub seine bloßen Hände hastig in die Schüssel. Das nutzlose Ding, meinen Löffel, legte er auf den Mauersims.

      Von oben her dröhnten Schritte über den blanken Beton vom Treppenhaus. Wegen des politischen Umbruches 1975 war das Haus nie vollendet worden, der Fahrstuhl nie eingebaut. Laureano, der portugiesische Bauherr, musste ebenso überstürzt das Land verlassen haben, wie es die meisten Kolonialisten vorgezogen hatten zu tun. Man weiß nicht, ob ihm etwas geschehen wäre. Es war eine Revolution, da gehen die Temperamente eines rechtlosen, ausgebeuteten Volkes schon mal durch. Den wenigen Portugiesen, die hier geblieben waren, war kein Haar gekrümmt worden, wie man hörte. Sofern sie nicht große Schuld auf sich geladen hatten.

      Solange Carlos aß, huschte ich nach draußen, wohl wissend, dass ich so erst recht gegen die strengen Vorschriften verstieß. Wir DDR-Bürger durften allein nirgendwohin gehen. Ich hatte mich offiziell nicht abgemeldet, also hatte ich das Haus nicht zu verlassen. Außerdem wusste nicht einmal Arne, wo ich war. Der Posten hielt mich auch nicht zurück, wie es seine Pflicht wäre. Gierig verschlang er die wahrscheinlich einzige Mahlzeit an diesem Tage.

      Ich lief neben der Straße ein Stück stadtauswärts. Hoch oben auf dem Tafelberg hob sich Christo-Rei wie ein weißes Kreuz vom tiefschwarzen Himmel ab und breitete die Arme aus, als wolle er alle Menschen unter seine Fittiche nehmen. War es ein Zufall oder hatte diese Stadt in den Jahren der Kolonialzeit einen besonderen Rang? Immerhin hatte der Schöpfer der Götterstatuen von Rio de Janeiro und Lissabon das Probestück auf dieses, jetzt gottverlassene Stückchen Erde gestellt. Inzwischen schien die schneeweiße Statue der einzige Luxus der Stadt zu sein, den die Sieger der Revolution noch nicht zweckentfremdet hatten.

      Mit unsicherem Tritt stolperte ich auf dem staubigen Weg ein paar Schritte weiter in jene Richtung, die ich damals noch als Süden ansah, weil da die Sonne am Mittag stand. Wir waren jedoch südlich vom Äquator!

      Je weiter ich mich entfernte, desto dunkler schien die Welt. Ich konnte die Hand vor meinen Augen nicht sehen. Laternen gab es kaum, Strom noch weniger. Beklommen blieb ich an einer Hauswand stehen. Aus dem Bairro drang monoton das Rasseln von Ketten oder Perlen in trockenen Kalebassen zu den Schlägen einer batuque. Dazwischen ein hilfloses Wimmern. Zu dieser Zeit und noch lange danach, war die afrikanische Kultur für mich unverständlich. Auswüchse nannte ich, was mich erschreckte. Gerade hatte ich über Beschneidungen gelesen: Ein Mädchen, das ihre sexuellen Gefühle noch gar nicht kennt, wird des Verlangens schon beraubt! Diese brutale Verstümmelung würde jährlich an zwei Millionen Opfern weltweit vollzogen, in vielen Kulturen. Mir schnürte es die Kehle zu. Stimmengewirr übertönte nun das Jammern. Ich war wütend, so machtlos zu sein. Zugleich war mir etwas klarer: Was bedeutet das Herzweh meines Kindes zu Hause, das in einer friedlichen Welt behütet lebt, gegen dieses Leid, dieses blutige Ritual einer patriarchalischen Welt. In meiner Kehle sammelten sich die Worte: Lasst das Kind in Ruhe. Doch ich schrie sie nicht. Ich lauschte nur wütend in die Dunkelheit. Die rhythmischen Klänge beherrschten die Nacht. Kein einziger klagender Ton war mehr zu hören. Und wenn es so ist? Ich bin hier Gast. Ich habe diese Kultur zu respektieren. Irgendwie sind wir doch alle verstümmelt, beschnitten in der Freiheit, beschnitten in unseren Gedanken über diese Welt. Spüren wir es als Leid?

      Jäh rissen mich nahe Schüsse aus meiner Lethargie und stellten in meinem Kopf den Schalter der Vernunft wieder an. Die Schüsse galten mir nicht, das wusste ich. Daran gewöhnen wollte ich mich nicht. Zurück im Schutz des Hauses fühlte ich, wie mein Herz aus dem Hals zu springen drohte. Ich schnappte nach Luft, doch Carlos stand in der Tür und lächelte satt und vergnügt. Vom Betonboden hob er die säuberlich ausgeleckte Schüssel und buckelte abermals: »Obrigado.«

      »De nada«, winkte ich ab und ich meinte es auch so. Seine Demut machte mich wütend, nahm mir die winzige Genugtuung, die mein unbemerktes Aufbegehren gegen die übertriebene Vorschrift bringen konnte.

      Langsam stapfte ich Stufe für Stufe die vier Stockwerke wieder hinauf. Von weiter oben hörte ich es nun besser. In einer der Hütten im Schilfland östlich vom Laureano feierte man eine komba, eine Totenfeier, wie beinahe allabendlich. Das Sterben nahm kein Ende. Es begleitete die Menschen auf ihrem hoffnungslosen Weg, wie die unbarmherzige Sonne in der Hitze des Tages. Wie die eisigen Nächte, in denen sich Mensch und Tier aneinander kuschelten, um zu überleben. Wie der unendliche Kampf um Nahrung, um sauberes Wasser, um ein bisschen Brennholz. Der einst stolze Bestand an Wald hatte längst den Weg von den Hängen der Berge hinunter in den hitzigen Kessel der Stadt genommen, um Tausende kleine Kessel zu heizen, in denen nur einmal am Tag der Hirsebrei brodelte. Holz, das nicht zum Kochen Verwendung fand, wurde für Särge gebraucht. Viele Särge. Nur der Tod schien an diesem Elend seine Freude zu haben.

      Nach kurzer Stille begann der auf- und abschwellende Gesang der Trauergemeinde. Die Nacht trug ihn sehr weit und jagte einem Fremdling wie mir den kalten Schauer unter die Haut.

      Amadé Njava, einer unserer angolanischen Freunde, hatte einmal erzählt, früher hätten die batuques stets Kriege angekündigt. Wohl deshalb würden sie mich so erschrecken. Ja, sie erschreckten mich, den Gesängen zu lauschen aber konnte ich mich nicht entziehen. Man fühlte sich auf dem Weg in eine andere Welt, hob ab in Trance, in trauriger Hoffnung. Doch wenn man jäh auf die Erde zurückfiel und die Augen wieder öffnete, hatte das Elend noch längst kein Ende.

      So bedrückend das Ritual immer war, an diesem Tag berührte es mich auf eine andere, eine nie gekannte Weise.

       Hatte Ngulas »Mondschaukel« Recht? Hatten die Götter der Ahnen ihren Tribut gefordert?

      Wie ferngesteuert legte ich eine Hand auf meine Brust und schaute in den südlichen Sternenhimmel, dessen unbeschreibliche Pracht aus dieser tiefen Dunkelheit geboren wurde. Ein faszinierendes Firmament wölbte sich über den schäbigen Hütten, als wäre der ganze Reichtum dieses Volkes in den Himmel geflüchtet und zeigte den armseligen Kreaturen den Weg aus ihrem jämmerlich irdischen Dasein. Aber wo wiegt sich jetzt der Halbmond? Ich sah ihn nicht mehr.

      »Die Mondschaukel«. Noch begriff ich nicht, dass meine Sinne an jenem Tage auf rätselhafte Weise infiziert waren. Der Tod war hier alltäglich zu Gast, warum hatte ich plötzlich so viel Ehrfurcht vor einem Zufall? Nur weil ein paar Zurückgebliebene ihn als Weisung einer höheren Macht verstanden? Ich hatte mir nie ernsthafte Gedanken gemacht, ob höhere Mächte existierten. Ich hasste die Verwirrung, die solche Gedanken anrichteten. Jetzt aber schien mir sogar meine Traurigkeit zu gefallen. Noch immer lauschte ich mit unbekanntem Gefühl in meiner Brust und wusste, sie würden die ganze Nacht mit den Klageweibern singen. Froh, keiner Beschneidung gelauscht