Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.


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Gespräch, wohl ahnend, dass die Leute aus den Hütten einst auf dem Land ihr Auskommen hatten.

      »Jeder Mensch, vor dem ein Unglück auftaucht, fühlt sich ausgestoßen, minderwertig geworden«, wich Celestina aus, als gäben meine Worte nur ein Gefühl wieder, einen Trugschluss. Sie hatte leicht reden. Ihr ging es gut. Sie hatte einen Beruf, konnte nebenbei studieren und fuhr einen kleinen weißen Käfer, um den sie jeder DDR-Bürger beneidete. Ob sie wirklich dachte, diese Menschen fühlten grundlos, ausgestoßen zu sein? Fragte sie danach, ob ihre Landsleute je Beistand bekamen, ob sie wirklich satt wurden und ihrer Tradition folgen konnten, ihrem Glauben nachgingen oder auch den schon längst verloren hatten? Davon wollte die Studentin nichts wissen.

      Später, Gott sei Dank nicht zu spät, bekam ich dann selbst den Blick für den einzelnen Menschen in dieser beklagenswerten Masse, deren bescheidene Wünsche in den Sorgen versickerten, in den Ängsten, in der Hoffnungslosigkeit dieser staubigen Welt. Ich musste erleben, wie sie das ganz normale Leben an sich vorbeiströmen ließen und nur noch in Zeitabständen dachten, die von der einzigen Mahlzeit am Tage bis zur nächsten reichte.

      Aber davon später.

      An jenem Tag ahnte ich noch nichts davon. Ich ahnte nur, wie gut es mir trotz aller Einschränkung noch ging. Ich beklagte mich nie. Nur meine Unwissenheit über alles, was mich umgab, lähmte mich zuweilen, machte meinen Geist unbeweglich, ließ nur eine Denkrichtung zu. Zurück.

      Am folgenden Sonntag brachen wir auf zur Fahrt nach Tundavala. Björn und Bernhard, die beiden OSK genannten Staatssicherheitsleute hatten zuvor den Weg ausgekundschaftet und ihn für sicher befunden. Es war gesetzt, dass kein DDR-Kooperant ohne Begleitung eines der OSKARs, wie wir sie kurz nannten, den Schutz der Gruppe verlassen durfte. Sogar unsere Fahrt zum einzigen freien Gemüsemarkt in dreißig Kilometer Entfernung — auf dem nicht gekauft, sondern getauscht wurde — musste einer der Bewacher mit seiner Waffe begleiten. Es war für keinen von uns noch überlegenswert, jeder hatte sich daran gewöhnt. Hier war es auch leichter als zuhause, diesen Umstand der ständigen Bewachung zu ertragen, hier gab es schließlich eine echte Gefahr.

      Die Natur und der klare Himmel sollten uns diesem Tag etwas Leichtigkeit geben. Unser kleiner Konvoi nahm die Straße nordwestlich über die Tafelberge und bog hinter dem Hügel der Igreja Senhora da Monte nach Westen ab. Der Weg entlang einer Bergfalte war ausgewaschen und steinig. Rechtsseitig in der Senke lagerten Unmengen rostiger Hinterlassenschaften des Krieges. Ausgebrannte LKW, auf Minen gelaufene Panzer, zerschossene Kriegsmaschinerie. Die üppige Natur besiegte die Spuren des Verderbens, wo das Verderben noch am Leben war. Überall, wo noch vor Wochen das Braun der Dürre vorherrschte, begann dichte Vegetation zu sprießen. Jetzt war das Land wirklich grün. Nur der Jungaustrieb der kleinwüchsigen Bäume und Sträucher hatte ein rötliches Braun, als hätte die Sonne ihre ganze Pracht darin zur Ruhe gebettet, um sie an diesem Morgen zu neuem Strahlen zu erwecken. Am Wegesrand streckten rosa Agaven ihre Blütenstängel mannshoch in den Himmel. Hin und wieder blitzte das feurige Rot eines Weihnachtssternes durch das üppige Grün. Jetzt ging es der Natur gut, es regnete täglich einmal. So erquicklich diese Zeit auch war, mit dem Regen wuchs neue Gefahr. Tagsüber fühlten wir uns sicher, aber jede Dämmerung hieß Achtung vor der gefährlichen Anopheles.

      Ich war das erste Mal hier oben. Alle aus unserer deutschen Gruppe fuhren gerne hier herauf auf die Felsplateaus über der Schlucht, die über sechshundert Meter in die Tiefe reichte. Hier war die Luft rein und würzig. Der einzige Hinweis auf Zivilisation war ein einsames Wirtshaus. Davor war der Weg zu Ende. Ein junger Mann im schneeweißen Hemd und dunkler Hose machte sich an den Blumenrabatten zu schaffen, ein anderer lehnte gelangweilt in der Tür. Hier herauf verirrte sich kaum ein Gast und auch wir hatten es nur auf den Picknickplatz unweit des Hauses abgesehen. Steinerne Bänke und Tische, gemauerte Grillroste und schattenspendende Bäume — Rudimente aus der Kolonialzeit. Mehr brauchten wir nicht.

      Ich sog die würzige Luft tief in meine Lungen, ehe das gleißende Licht der Mittagssonne uns in den Schatten der wenigen Eukalyptusbäume verdammen sollte, die dem Holzraub der Hoffnungslosen noch entgangen waren.

      Beinahe dreißig meiner Landsleute verteilten sich in kleinen Gruppen um die steinernen Tische. Jedes Paar hatte einen gut gefüllten Picknickkorb dabei und selbst gemachte Säfte. Dieser Tag hatte noch etwas Besonderes. Jemandem war es gelungen, einen Kasten N’Gola-Bier außer der Reihe zu organisieren. So alle zwei bis drei Wochen hatten wir Anspruch auf einen kleinen Kasten pro cartaò de abastecimento. Das war jene Lebensmittelkarte für den hiesigen Einkauf, die nur der bekam, der Arbeit hatte. Zwanzig kleine Flaschen Bier waren lächerlich wenig für alle, aber immerhin, es war Bier, auch wenn es zuweilen nach Stachelbeeren schmeckte.

      Die fenda von Tundavala ist eine gewaltige Schlucht im Bruch zwischen Serra da Chela und Serra da Neve. Zu dieser Zeit stürzten kleine Bäche von den Felsen herab und ergossen sich in die Täler, wo sie in der dürstenden Erde versiegten. Da, wo das Wasser sich sammeln konnte, traf sich Alt und Jung.

      Die Waschplätze nahe der Stadt, oft zwischen Felsgestein gelegen, waren die Badestuben für Mensch und Vieh und die Tummelplätze der Kinder. Berge von Textilien wurden hier von den Frauen gewaschen. Sie lachten und redeten dort miteinander, bis die Sonne die über heiße Felsbrocken ausgebreiteten Kleidungsstücke getrocknet hatte. Wenn die Frauen mit ihren Kiepen auf den Köpfen —bisweilen waren sie auch noch voller nasser Wäsche — und mit ihren Babys auf dem Rücken wieder nach Hause gingen, lachten sie ebenso, als wäre es keine Anstrengung.

      Der schwere süße Geruch gelber Akazien breitete sich über dem Picknickplatz aus und kroch mir unerträglich stark in die Nase. Arne hatte sich einem Skatspielertrupp angeschlossen und die Frauen lamentierten über diverse häusliche Verrichtung, die für jede Einzelne nichts als Rückständigkeit bedeutete. Auch ich konnte der fremden Lebensart kein Lob abringen. Zum Lamentieren war ich noch weniger geboren worden. Keiner von uns hätte es ändern können, wenn Brot aus den Transportsäcken auf die dreckige Ladefläche des offenen Lastwagens kullerte und das Vieh, dessen Fleisch wir maximal viermal im Jahr erhielten, in Holzfällermanier zerteilt wurde.

      Ich dachte an Carlos und daran, wo er wohl wohnen könnte. Ganz bestimmt da weit unten im grünen Land, von wo er seinen Blick auf die Felsen gerichtet haben mochte, die er nie erklimmen sollte. Und ich dachte an meine Kinder.

      Mein mütterlicher Schmerz im Herzen und die nächtliche Angst seit meiner Ankunft, wandelten sich bald in nachdenkliche Stille. Ich fühlte mich merkwürdig untätig, obwohl es täglich viel Mühe bereitete, das profane Leben abzusichern. Mein Herz wurde nie leicht und mein Kopf war wie leergeblasen.

      Das änderte sich erst viel später, als ich anfing, heimlich zum Bairro zu laufen…

      KINDER IM STAUB DER STRASSE

      Ich erinnere mich ungewöhnlich gut an den Tag, wo die Veränderung ihren ungewollten Anfang nahm. Es war Sonntagvormittag. Wir waren — ordentlich bei Björn abgemeldet — mit unseren deutschen Nachbarn Hellen und Dietmar zu Fuß den weiten Weg bis zum Stadtpark gegangen, der hier feira genannt wurde, weil in diesem Areal alle großen Zusammenkünfte stattfanden. Der Morgen war noch mild, und wir genossen die Ruhe. Zu dieser Zeit hielten sich kaum Menschen da draußen am Fuße der Tafelberge auf. Eigentlich war es der netteste Vormittag, den wir je mit Hellen und Dietmar verbracht hatten. Wir saßen auf einer Bank und lauschten den Wasserspielen, die das Schwimmbecken im unteren Park speisten. In einem bombastischen Gummibaum zirpten Zikaden. Wir hielten unser Picknick ab und erzählten von zuhause, von den Kindern und unseren Berufen, die wir Frauen vermissten. Der Tag ging dahin, aber keiner verspürte Lust, wieder von hier aufzubrechen, Dabei war es höchste Zeit. Wir hatten und bis gegen Sechzehnuhr abgemeldet. Gegen Siebzehnuhrdreißig begann die Sonne rasant hinter die Bergen zu verschwinden und ab Achtzehnuhr war es zu jeder Zeit stockdunkel. Der Weg zurück war lang. Beinahe eine Stunde war zu laufen, aber Dietmar meinte, es gäbe einen kürzeren Weg quer durch den bairro.

      Wir liefen auf halber Distanz zwischen Tafelberg und Stadtzentrum durch ein unendlich großes, unendlich verwirrendes Gebiet. Offiziell nannte man diese Ansammlungen der Flüchtlingshütten bairro, aber wir wussten längst,