Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.


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zu versanden. Hier atmete die Wirklichkeit unter der Weite des afrikanischen Himmels unheimliche Bedrückung. Hier hausten die Ärmsten der Armen, Menschen ohne Arbeit und ohne Besitz. Ihr fremdes Zuhause war nichts als vier nackte Lehmwände unter einem Wellblechdach. Sie hatten sich aus dem Staube gemacht, aus Furcht vor Überfällen und vor Zwangsrekrutierungen ihrer Söhne in die Armee des »schwarzen Hahnes« Jonathan Savimbi, der bei der Befreiung von den Portugiesen der Wegbegleiter des Staatspräsidenten Eduardo dos Santos war.

      Nach dem Sieg hatte der Geruch von Macht die einstigen Freunde entzweit, ihr Streben nach Vormacht in verschiedene Lager getrieben — zu Lasten der Menschen, für die sie Verantwortung zu tragen hätten.

      Hier im Staub am Rand der Stadt fühlten sich die Menschen zwar sicherer als zu Hause auf ihrem Stück Land, das sie nährte. Versorgt und behütet waren sie hier keinesfalls. Die städtische Infrastruktur war für zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend Menschen ausgerichtet. Jetzt warteten hier über hunderttausend Menschen auf das Ende des längsten und mörderischsten Krieges auf diesem Kontinent.

      Durch die Elendsviertel zu gehen, war uns seitens der DDR verboten. Es sei zu gefährlich, zu unübersichtlich. Das konnte jeder, der sich einmal darin verirrt hatte, guten Gewissens bestätigen.

      Nun liefen wir auf einem Damm entlang, der noch die Reste des Schienenstranges einer Zubringerbahn trug. Das machte mich ruhig. Die Gleise würden irgendwo spitzwinkelig auf den Bahnhof treffen. Von da aus verlief die Asphaltstraße in Richtung Stadtmitte, an der das Laureano stand, das Haus, in dem die meisten DDR-Kooperanten wohnten und das noch immer den Namen seines portugiesischen Erbauers trug, wie viele Häuser in der Stadt.

      Vom Damm aus konnte man über die notdürftigen Umfriedungen in die Höfe der Hoffnungslosen blicken. Die ärmlichen Behausungen aus Lehm und Gras hatten selten Türen. Die Eingänge waren mit Stofffetzen geschützt, bestenfalls diente am Abend ein Wellblechrest als Tür. Solche Bleche lehnten überall an den Hauswänden. Ihr Vibrieren begleitete mit schaurigen Klängen das dumpfe Schlagen der Stampfstöcke in die Getreidemörser. Vor jeder Hütte gab es eine Feuerstelle aus aufgeschichteten Steinen. Dort kohlten die Enden dicker Baumstämme oder zusammengesammelter Äste. Äxte oder Sägen besaß keiner hier.

      Die Höfe waren sauber gefegt, aber Berge von Müll und stinkendem Unrat türmten sich ein paar Schritte entfernt an den Wegen. Magere, von nächtlichen Kämpfen zerschundene Hunde, Hühner und sogar Ziegen liefen frei herum und wühlten im Abfall nach Brauchbarem.

      Je näher man der Stadt kam, sah man kleine Gartenflecken zwischen den Hütten, was von längerem Aufenthalt zeugte. Hier wie dort war die Zeit zu leben kurz bemessen worden, das einst erhoffte Kriegsende aber war schon lange verstrichen.

      Dieser bairro erstreckte sich kilometerweit vom Rande des Stadtkerns bis zum Fuße des Tafelberges, und sogar an dessen Hängen klebten schon vereinzelt Behausungen, als hätte sie die vorzeitliche Sintflut dort hinauf gespült. Längs des schmalen Weges sahen die Höfe trist aber sauber aus, während weiter an der Peripherie Unrat und Dreck vorherrschten. Hinter einem üppigen Busch aus Zuckerrohr und Bambus blitze das seltene, halbrunde Gebilde eines Backofens aus Lehm hervor.

      In dieser Zeit spürte man noch das Wachsen der Natur, ehe die jungen Pflanzen durch die schwirrende Hitze der Tage erstarren sollten, bis der Himmel ihnen wieder den Segen schickte, der ihr Siechtum für ein paar Wochen beendete.

      Eine kleine Menschenansammlung zwang uns, einen Bogen um üppiges Gestrüpp zu schlagen. Da wo der Weg in einen kleinen Platz auslief, saßen ein paar Männer in ein Spiel mit Kieselsteinen vertieft. Die Runde wurde von Schaulustigen flankiert, die in ärmliche Kleider gehüllt waren. Die kleinen Kinder hüpften splitternackend dazwischen herum. Ein verkrüppelter Junge mit dem Körper eines ausgehungerten Gerippes schaukelte, nur auf seine übergroßen Hände gestützt, über den festgestampften, lehmigen Boden. Seine nackten Beine — zum ewigen Schneidersitz verschränkt — schimmerten wie Elfenbein, hell und knöchern. Das Muster der hingeworfenen Steine musste einen der mürrischen Alten in Trance versetzt haben. Seinem Mund entwichen unheimliche Worte, seine Hand deutete auf den Krüppel, der allem Anschein nach durch seine pure Anwesenheit zum Schuldigen für das Pech des Alten im Spiel erklärt wurde.

      Wir liefen eiligst in angemessener Entfernung vorbei, in der Hoffnung, nicht Zeugen eines Unheils zu werden. Es kam vor, dass diese selbst ernannten Weisen in den vom Schicksal geplagten Wesen die Ursache irgendeines Unheils erkannten und sie dafür kollektiv bestraften.

      Etliche Meter weiter, vor einer größeren Hütte, die über zwei Türen und einen Stall für Ziegen und Federvieh verfügte, saßen Halbwüchsige über Schnitzarbeiten gebeugt. Einer sprang auf und winkte uns zu, näher zu kommen, um etwas zu kaufen. Ein anderer Junge schnitzte ein Krokodil, das Arne gefiel. Obwohl er den Boss der Schnitzer hinter sich wusste, redete Arne nur mit dem Jungen. Der aber durfte nicht verhandeln, schien trotzdem sehr stolz über die unverhofften Worte des Fremden zu sein. Seine Augen blitzten noch weiß, wo das Weiß hingehörte, weil das giftige Gebräu des gujome seine Leber noch nicht zerfressen hatte. Der Mund des Jungen lächelte kindlich, samtig: Nein. Er habe noch nie ein Krokodil gesehen. Er arbeite nach, was sein patron gearbeitet habe, als er noch ein zé-ninguém war, wie er einer sei. Jetzt brauche der patron nicht mehr zu arbeiten. Er sprach mehr mit den Händen, die flink und geschickt zu hantieren gewohnt waren, als mit dem Mund, der immer wieder zu Lauten griff, die fremd klangen. Wir verstanden ihn dennoch. Krokodile, so meinte er, lebten im Wasser. Hier aber gäbe es kaum Wasser. Noch schlimmer sei es im Westen, nur trockene Flussbette sogar in der Regenzeit.

      Ich zeigte auf ein Nashorn, das bereits mit Wichse schwarz poliert neben anderen Figuren auf einem Holzklotz stand. Es gefiel mir.

      »Nao conheces tambèn?«, fragte ich fonetisch vermutlich unkorrekt, denn ich hatte nur halbherzig und nur autodidaktisch Portugiesisch gelernt. Doch das störte diese Menschen nicht. Es war ja auch nicht ihre Sprache. Eindringlinge hatten sie ihren Vätern und Großvätern und Urgroßvätern auferlegt. Unter sich sprachen sie die Sprache ihrer Väter. Keiner von uns kannte sich aus mit den Volksstämmen und deren Sprachen, so, wie wir DDR-Bürger die große Welt nicht kannten, nicht kennen durften. Aber mehr als irgendwo sonst spürte man hier das großherzige Bemühen zu akzeptieren, wie ein jeder in der Lage war, sich verständlich zu machen.

      Die Augen des Jungen huschten hastig hin und her, von uns zum patron und zurück. Nein. Er habe auch noch nie ein Nashorn gesehen, sagte es lächelnd. Die Kinder in den bairros kannten die afrikanischen Tiere weniger gut, als die Kinder in Europa.

      Der Boss saß unbeweglich auf einem Holzklotz im Schatten und rauchte, die Beine weit auseinandergestellt, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt. Arne ging zu ihm und versprach, später auch das Krokodil noch zu holen, wenn es fertig sei. Dem Jungen steckte er behände ein paar Bonbons zu, in der Hoffnung, der Boss würde sie ihm lassen. Ein einziges Bonbon hatte hier den gleichen Schwarzmarkt-Preis wie ein Stangenbrot aus dem staatlichen Handel.

      Der Mann hatte in seiner Trägheit nichts bemerkt, während die Augen des Jungen zu glühen begannen. Unruhig scharrten seine Füße im Staub, doch er beugte sich tief über das Krokodil aus hellem Holz und schnitzte weiter.

      »Ate logo«, rief Arne zum Abschied. Er zwinkerte dem Jungen zu und zog das Zaunfeld aus Draht und Binsen wieder ordentlich vor den Ausgang. Kaum waren wir außer Sichtweite, zupfte Hellen Arne am Ärmel und wetterte in ihrem unverwechselbaren Jargon: »Schade um die Bonbons, Arne. Der Alte lässt die dem Jungen nicht. Da wette ich.«

      Im Innersten wusste ich, dass es so sein konnte, aber Wasser auf die nie verstummende Mühle von Hellens Lamento zu kippen, behagte mir nicht. Wenn ich schwieg, hielten ihre Tiraden meist nicht lange an. Also schwieg ich in der Gewissheit, auch niemals im Leben gewusst zu haben, wohin unsere Soli-Spenden flossen. Immer hatten wir gehofft, sie mögen die Bedürftigen erreichen. Ohne diese Hoffnung, ohne das Vertrauen in die Instanzen, funktioniert keine Solidarität. Auch nicht die gewaltige, pflichtgemäße der sechzehn Millionen Menschen meines Heimatlandes.

      Schon bald hörten wir hastige Schritte und ein Schnaufen dicht hinter uns.

      »Amigo,