Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.


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klasse, Maxi?«

      Ich glaubte ihr, dass sie es nur in die ferne Welt zog, nicht aus dem heimischen System. Sie hatte eine erwachsene Tochter im Alter unseres Sohnes Nico, der verheiratet war aber nicht sorgenfrei, weshalb diese Ehe kein Hort für unser Tochter Ina war.

      »Bist du der Landschaft wegen mit Dietmar mitgegangen?« Wenn ich Hellen richtig einschätzte, hatte sie auf alles, was sich im Leben ihrer Ehe je geändert hatte, den größeren Einfluss, auch wenn dieser nur im Abwenden scheinbar nachteiliger Entscheidungen ihres Mannes lag.

      Hellen stolperte neben mir her wie ein Huhn im Schnee und antwortete atemlos. »Wir wussten doch nicht, wohin man uns schickt. Ich wäre lieber in ein reiches Land gegangen. Aber wer weiß, vielleicht hätte ich dann nie wieder nach Hause zurück gewollt.«

      Das war neu. Hellen schwärmte zwar nicht zum ersten Mal von fantastischen Gegenden der Welt, doch zum ersten Mal war es ihr gelungen, mich neugierig zu machen:

      »Heißt nicht gewollt auch nicht gegangen?«

      »Wo denkst du hin!« Der Satz kam genauso barsch über ihre Lippen, wie kurz vorher einer von mir. Nur eines war anders. Hellen trug jetzt nicht die Züge ihrer ständigen Abscheu gegen dieses Stückchen Land, gegen Schmutz und fehlende Hygiene zur Schau. Ihre Augen begannen zu leuchten wie die Bougainvillea.

      »Ich freue mich auf mein Zuhause.« Sie streckte ihre Hände in die Luft und spreizte die Finger: »Noch neun Monate, Maxi. Neun. «

      Sie konnte nicht verbergen, was ihr bei dem Gedanken an zuhause durch den Kopf ging. Doch dann war es doch ungewöhnlich. Hellen, die beinahe ausschließlich von Hausfrauensorgen bewegt wurde, begann ein Loblied auf die Sozialleistungen in der DDR zu singen. Zu guter Letzt legte sie einen Finger auf die Lippen und sprach von ihren westdeutschen Verwandten, von denen niemand wissen durfte.

      »Die loben unser Sozialsystem, aber bei uns leben will keiner von denen da drüben.«

      Noch viele solche Worte holperten aus ihrem Mund, wie ihre Füße über den ausgetretenen Weg. Mir schien es, als müsste ich sie auffangen, bremsen. Ich hatte keine Lust, mit Hellen über diese Dinge zu reden. Sie redete sonst nie über Politik. Warum heute, wo meine Sinne fest auf ein bestimmtes Ziel gerichtet waren. Meine Unlust war nicht zu überbieten, dennoch ging ich auf Hellen ein:

      »Jeder wünscht sich das, was er nicht hat. Wir die Reisefreiheit und deine Westverwandten mehr Sorge um den Menschen. Das ist wie mit dem Himmel von Afrika und dem gewohnten Novemberregen.«

      Hellen war stehen geblieben und zupfte sich mit staunenden Augen herumfliegende Samen von der Bluse.

      »Eines hab ich nie verstanden, Maxi. Die nennen es Demokratie und sind stolz darauf. Und wir tun dasselbe, obwohl doch Welten dazwischen liegen.«

      Angesichts der immer drückenderen Hitze und der Mühsal, die uns das Laufen bereitete, vermied ich es, jeglichen Anschein von Interesse zu hinterlassen. Hellen hatte trotzdem gesiegt. Im Stillen dachte ich nach. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, in einigen Dingen des Lebens freier entscheiden zu können, weniger biegsam den Erwartungen der Obrigkeit zu entsprechen, so ruhte doch jene Ahnung in mir: Die mündigen Bürger in der freiheitlichen Demokratie, auf die so manch einer von uns neidisch schielte, könnten einer gnadenlosen gesellschaftlichen Konfrontation ausgesetzt sein. Parteiengerangel. Machtkampf. Ellenbogengesetz. Wir hingegen hatten keine andere Wahl, dafür aber die gutgläubige Hoffnung, die Zuversicht auf eine friedliche Welt, auf die Solidarität mit benachteiligten Völkern, auf den Siegeszug der Menschenwürde auf diesem Planeten und den Stolz, auf neuen Wegen der menschlichen Gesellschaft zu schreiten.

      Während mein Kopf den Schlagabtausch zwischen dem goldenen Westen mit seinem Wirtschaftswunder und dem unschätzbaren Sozialwunder im Osten führte, liefen unsere Füße durch den Staub der realen afrikanischen Welt. Dieser Staub umhüllte bereits unsere Schuhe und kroch langsam bis zu den Knöcheln. Ich musste mich zwingen, nicht auffallend schneller zu laufen, war ich doch kribbelig auf den Moment, den ich beabsichtigt, aber Hellen verheimlicht hatte.

      Nachdem ich im Durcheinander von Trampelpfaden und Hütten beinahe die Orientierung verloren hätte, quälte der trocken-muffige Geruch eines Abfallberges unsere Nasen. Hier war die Stelle, an der wir in Richtung Damm abzubiegen hatten, um jene Hütte zu finden, nach der ich suchte. Prompt wollte Hellen zurückgehen und begann mit ihrem Gezeter von tückischen Krankheiten, die man sich auf diesen Wegen holen könne. Nicht umsonst sei uns nahegelegt worden, diese Gegenden zu meiden. Wegen der jämmerlichen Volkskunst sollten wir dieses Risiko nicht eingehen. Außerdem fände ich in Luanda an jeder Ecke ein solches Krokodil. Das hier sei eh΄ kein wertvolles Schwarzholz, nur mit Schuhkrem eingefärbte Pinie oder Eukalyptus, und wer weiß, was Kenner davon halten würden.

      »Man braucht immerhin einen selo für jedes Teil. Was für den Zoll nicht wertlos ist, wird auch nicht wertlos sein. Später einmal wird der ideelle Wert für uns der größere sein.«

      Warum war ich nicht still, warum verhandelte ich noch? Es war ohnehin zu spät umzukehren. Wenn der Dürstende das Wasser spürt, gibt es kein Zurück mehr. Selbst bei größter Gefahr.

      Hinter dem Müllberg saßen Kinder, wühlten im Unrat nach Essbarem und starrten uns mit großen Augen an. Einige von ihnen reckten ihre schmutzigen Hände uns entgegen und ich war sicher, wir würden bis zu unserem Ziel eine kleine Eskorte aus hungrigen Mündern mit uns ziehen, die Grimassen schneiden und wilde Verrenkungen aufführen würden. Ich war diese Wege durch den bairro noch nicht oft genug gegangen, um so viele Kinder zu bemerken. Der Schlafende weiß von nichts. Nur wer sich auf den Tag einlässt, dem öffnen sich die Augen.

      Als ich zum ersten Mal unten in der Stadt Kinder im Müll gesehen hatte, war meine einzige Regung pures Entsetzen, Verachtung für die Eltern, die nicht auf ihre Kinder achteten. Es seien doch keine Ratten, und der Unrat sei kein Ort für das Spiel eines Kindes, das gesund und kräftig werden sollte, um seine Eltern einmal ernähren zu können.

      Wie hatte man sich inzwischen an den Anblick gewöhnt!

      Ich konnte plötzlich nicht mehr reden, nicht darüber, worüber Hellen gewöhnlich schwatzte. Ich wünschte, auch ihr ginge es wie mir. Doch der Anblick des Elends führt bei verschiedenen Seelen durchaus zu verschiedenen Resultaten. Hellen trat heftig mit den Füßen in das dürre Gras neben dem staubigen Weg und ließ wieder ihr ständiges »igitt« durch die in Ekel festverbissenen Zähne schlüpfen. Dabei rümpfte sie ununterbrochen die Nase. Mindestens genauso energisch versuchte sie, mich noch einmal zur Umkehr zu bewegen. Sie tat mir leid. Was musste sie ob ihrer empfindsamen Wahrnehmung gelitten haben. Es gab hier kaum zwanzig Meter Weg, auf dem kein Unrat lag, kaum ein Gebüsch, aus dem nicht die Exkremente gen Himmel stanken. Nur um die Opuntien schwirrten die Schmeißfliegen nicht in Scharen herum, obwohl gerade diese bombastischen Gebüsche als Ersatz für fehlende Latrinen dienten. Die Natur weiß sich offenbar besser zu helfen, als der Mensch dem Menschen.

      Je näher wir der Hütte in der dritten Reihe kamen, desto sicherer war ich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass meine Knie zitterten. Ich vermisste den Widerhall der Mörser, dennoch konnte es keine Vorahnung gewesen sein. Mein Herz raste in dem Maße, wie der löchrige Zaun mehr und mehr vom Elend preisgab, von dem wir nichts ahnen konnten. Diesmal waren an Enkembes Hütte auch zwei Männer anwesend. Sie knieten auf der blanken Erde und zimmerten notdürftig eine kleine Kiste zusammen, keine sechzig Zentimeter lang. In der Tür lehnte, abgemagert und mit fadem Gesicht jene Frau, die vor einigen Tagen mit schwangerem Leib zusammen mit der Alten Hirse gestampft hatte.

      Mir war sofort klar, woher dieser Schmerz in mir rührte. Jene Kiste, für die sich der Vater heute einmal Zeit nahm, sollte das tote Baby aufnehmen, das keine Chance hatte, in dieser Welt zu überleben. Alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Erde ein Mensch an den Folgen der Unterernährung, das hatte ich im Sputnik gelesen.

      »Es war der Hunger«, sagte ich, fest davon überzeugt, Hunger sei auch in diesem Land die Todesursache Nummer eins.

      »Dieser verdammte Krieg«, fluchte Hellen, in dem sie sich beide Hände vor ihren erschrockenen Mund presste. Ob es wirklich nur der Krieg war, der den Hunger brachte, bezweifelte ich. Für Politiker war der