Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.


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und Sterne an das Firmament:

       Ein offener LKW. In einer Holzkiste die sterblichen Überreste des Verstorbenen. Die Trauergäste umringen die Kiste, nur die Witwe darf darauf sitzen. Hier gibt es frische Blumen allein für den Tod. Zum Zeichen der Trauer reckt jemand zwei zum Kreuz geschlagene Hölzer über das Fahrerhaus. Die Tradition verbietet dann allen Fahrzeugen das Überholen. Sie reihen sich ehrfürchtig aneinander und ich hoffte selbstvergessen, es möge zu einer Zeit stattfinden, wo keine Unwissenden, keine respektlosen Ignoranten unterwegs seien. Es würde wieder einen endlos langen, schleichenden Trauerzug geben.

      Vorsichtig legte sich ein Arm um meinen Körper.

      »Arne!« Ich schmiegte mich an ihn. Sein Atem vibrierte, aber sein T-Shirt fühlte sich so eisig an, wie es die Nacht zu werden versprach. Er hatte mich schon bei den Nachbarn gesucht.

      »Mach das nie wieder Maxi!« keuchte er. Für mich klang seine Stimme vorwurfsvoll, aber ich spürte zugleich Erleichterung darin.

      Gemeinsam stiegen wir die dunklen Stufen bis zu unserer Wohnung hinauf. In der dritten Etage bei Don Acevedo wurde lautstark und fröhlich gefeiert.

      DAS ANDERE LEBEN - November 1986

      Die Sonne an diesem Morgen und die Aussicht auf die Ankunft des Koffers mit Post aus der Heimat brachten neue Zuversicht. Ein stilles Abkommen mit den Piloten der angolanischen Fluggesellschaft TAAG bescherte uns einmal wöchentlich die schnelle Beförderung der heiß ersehnten Post, die mit der Interflugmaschine aus Berlin-Schönefeld zur Botschaft in Luanda befördert wurde und nach der Kontrolle durch deren Sicherheitsdienst mehr oder weniger rasch von angolanischen Piloten auf den Weg in die Provinzen gebracht wurde.

      Manchmal war der Koffer verschwunden. Zumeist tauchte er aufgebrochen und ramponiert irgendwann wieder auf. Bisweilen aber blieb er verschwunden. Abgesehen vom Wert des Koffers war der Inhalt für Diebe unergiebig, für uns aber unersetzbar. Niemand wusste, welche Nachrichten aus der Heimat verlorengegangen waren. Briefe aus der Heimat waren die einzige Chance, mit unseren Familien in Kontakt zu bleiben. Telefone gab es für uns nicht, und auf meine angolanische Nachbarin Rosa konnte ich mich entweder nicht verlassen, oder auch sie hatte bei diesem Telefonnetz keine Chance. Zweimal hatte ich sie gebeten, für mich anzurufen, aber es gab nie einen Erfolg. Die deutsche Gruppe verfügte über ein Funkgerät, aber das diente nur der Übermittlung von Zustandsberichten der mitgereisten Staatssicherheitsleute an deren Dienststellen in der Hauptstadt oder für einen absoluten Notfall. Die anderen Informanten, die es in der Gruppe gab, und von denen wir wussten oder vermuteten, schrieben wöchentlich Briefe an ihre Dienststellen in der Heimat.

      An diesem Tag gab es per Funk ein Avis aus Luanda. Sobald die Boeing 707 vom Inlandsverkehr im Anflug auf die Stadt war, machte sich Björn, unser Sicherheitsmann, auf den Weg zum Flugplatz. Der lag fünf Kilometer östlich vom Stadtrand entfernt. Björn ging keiner anderen Arbeit nach, als die dreißig Leute der Gruppe zu «beschützen». Ihn unterstützten dabei im Wechsel jeweils andere Angehörige der Staatssicherheit, die stets nur sechs Monate im Land blieben. Björn wohnte mit seiner Frau Yvonne über uns und sie blieben mehrere Jahre hier.

      Noch war die Luft kühl. Auf der Ostseite wärmte die Sonne bereits die Balustrade, zu der die Wohnungstüren zeigten. Die spartanisch eingerichtete Küche hatte eine separate Tür. Vor dem Sieg der Revolution hielt man auf diese Weise die Dienstboten aus dem Wohnbereich der portugiesischen Herrschaften fern. Diese Küchentür benutzte ich nur, um Björn beim Wasserzapfen den kürzesten Weg zu ermöglichen, oder manchmal, wenn mein Brotteig schon am Morgen mit einem Tuch bedeckt auf einem Hocker in der warmen Sonne stand. Das war an diesem Tage der Fall.

      Zum Osten hin lagen die Hütten eines der vielen bairros zwischen dichtem Grün. Nur vereinzelt konnte man sehen, wie das Leben da unten zu erwachen begann. Umso erdrückender für mich die Gewissheit, auf dieser Seite sehr nah am Elend zu sein. Auch wenn es die Augen nicht direkt sahen, das Elend und der tägliche Tod schlichen in mein Gemüt, zerkratzten die Seele und das Gewissen, hier zu sein und doch nicht genug zu tun.

      Was aber war genug, und wo sollte man beginnen? So wie es keinen Anfang gab, würde es kein Ende geben.

      Ich riss mich los vom Anblick der dichten Bambusbüsche. Wie immer würde ich im unüberschaubaren Durcheinander die Hütte der Trauernden nicht herausfinden, wo mir am Abend das laute Wehklagen der komba diesen Schrecken versetzt und des Nachts den Schlaf geraubt hatte. Ich lief zur West-Seite der Wohnung und trat auf den Balkon. Nirgendwo auf der nach beiden Seiten ansteigenden Straße hatte sich ein langer, unfreiwilliger Leichenzug hinter einem dahin schleichenden Lastwagen gebildet. Der Weg zum Friedhof war weit. Er lag auf einer Anhöhe, einst außerhalb der Stadt. Heute war er längst umringt, geradezu eingeschnürt von den Elendsvierteln. Man begrub die Toten dicht an dicht in erschreckender Einfachheit. Nur selten zeigte ein Holzpflöckchen die Stätte der letzten Ruhe, die von Unkraut überwuchert bald in Vergessenheit geriet. Ein anderer Teil des Gottesackers, ein morbides Spektakel marmorner Tempel- und Kapellenarchitektur, ließ den Wohlstand der einst Herrschenden erahnen. Dieser Grabmal-Pomp war eines der Privilegien der Portugiesen gewesen und ich fragte mich, wer wohl jetzt deren opulente Grabmäler schmückt.

      Die Luft war klar wie an jedem Morgen, doch irgendetwas war anders. Die laute, dicht befahrene Straße war von welkem Laub übersät. So glaubte ich, bis ich begriff, dass es Heuschrecken waren. In meinem Trübsinn hatte ich am Abend vergessen, die Wäsche von der Leine zu nehmen, die die Hälfte meines Balkons überspannte. An jedem Stück Wäsche klebten nun die gefräßigen Biester. Nur mit Ekel und Widerwillen bemühte ich mich, das grüne Getier abzuschütteln. Ich hatte mich an all diese Dinge noch nicht gewöhnt. Den grünen, jungen Tieren sah man ihre Gefährlichkeit nicht an, das einzelne Tier war auch nicht wirklich ekelig, eher grazil. Die Penetranz liegt immer in der Masse, pflegte Arne gerne zu sagen, und das beträfe nicht nur die Heuschrecken. Vier Stockwerke unter mir auf der Asphaltstraße war die Masse verendet. Ob es die Kälte der Nacht war?

      Schräg gegenüber entlang der Straße waren die weiß getünchten Villen aus der Kolonialzeit in helles Licht getaucht. Wie aufgereihte Perlen blendete ihr Glanz. Nur ein paar Schritte dahinter, im nahen bairro, kamen die Menschen wie allmorgendlich stocksteif aus ihren Hütten gekrochen und wärmten sich an den gelben Lehmwänden, die sich der Sonne entgegen reckten. Solange ich die Heuschrecken über die Balkonbrüstung aus den Kleidungsstücken schüttelte, war mir beklommen zumute. Nicht der Tiere wegen, es war der Anblick dieser betrüblichen Nachbarschaft. Ich liebte es, hoch oben zu wohnen und den ungehinderten Blick bis zu den Tafelbergen schweifen zu lassen. Dieser Blick aber sah immer zugleich auch das Elend. Die Leute in den flachen, weißen Villen zogen hohe Mauern um sich oder errichteten Zäune aus lebendem Blattwerk, um das Elend, das der Bürgerkrieg gebracht hatte, von sich fernzuhalten. Wenn man mit einem von ihnen über die Menschen im bairro reden wollte, erntete man nur beleidigtes Schweigen. War denen beim Anblick des Elends ebenso beklommen zumute wie mir? Oder fühlten sie sich von den vor dem Krieg geflüchteten Landsleuten gestört? Ohne diesen sinnlosen Krieg hätte jeder Einzelne von denen sein Überleben selbst gesichert.

      Warum ging mir das alles durch den Kopf? Die bairros waren — für mich jedenfalls — immer da gewesen und mit ihnen die Erklärung, warum sie da sein mussten. Ich kannte es nicht anders, die Einheimischen kannten die Zeit sehr wohl, als die Stadt nur ihnen gehörte. Damals war es angenehmer, in dieser Stadt — der Perle des Südens — zu leben. Jetzt waren viele Häuserwände zerschossen, die Fenster geborsten und etliche Bauruinen verkamen in jahrelanger Starre, weil deren Bauherren es vor mehr als zehn Jahren vorgezogen hatten, das Land zu verlassen, das kein Herrenvolk mehr um sich haben wollte. Als dann die neue Aggression begann und die lehmigen Krebsgeschwüre die Grünflächen am Stadtrand überwucherten, wurde die Perle matt, verlor ihren Glanz, und mit den Elendsvierteln schwand der junge Glanz einer geeinten Nation. Über Hunderttausend Menschen lebten jetzt in der Stadt, die für zwanzigtausend genügen würde. Die meisten waren notdürftig eingepfercht zwischen selbstgeformten Lehmwänden unter notdürftigen Dächern.

      »Lauter Dumme und Faule werden es nicht sein, die jetzt dort hausen«, hatte Arne zu seiner Diplomandin Celestina