Gary Reich

Destination Berlin


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heute, am letzten Tag im März 2015, kurz nach der Zeitumstellung, kurz nach meinem 30. Geburtstag, liege ich in meinem zukünftig ehemaligen Bett, in einer zwar möblierten, aber sonst leeren und bereits an den Nachmieter übergebenen Wohnung, einen Leihwagen vor der Tür, nur wenige Stunden vor einer Fahrt in ein neues Leben voller Veränderungen.

      Ich hasse Veränderungen. Obwohl, mittlerweile reizen mich Veränderungen. Aber warum? Ich war doch immer ein absolutes Gewohnheitstier. Eine Gewohnheitsmaschine.

      Ich hatte immer Angst mich zu verändern. Und ich hatte Angst mich nicht zu verändern.

      War das alles nur eine Illusion, weil ich es nur nicht besser wusste? Oder ist es eine Illusion, mit einem Schlag alles - vor allem aber mich selbst - verändern zu können?

      Träume ich nur sehr real und mein Wecker wird mich pünktlich um 06:55 Uhr wecken? Und warum liegt hier eigentlich Stroh? Und warum habe ich eine Maske auf?

      Ach nein, dazu kommt es ja erst im Jahr 2020 … Zumindest der Teil mit der Maske …

      Die Wege des Herrn, oder (bei Agnostikern wir mir) die Pfade des Lebens sind manchmal unergründlich.

      Das Leben nimmt manchmal Formen und Farben an, die man selbst niemals in Betracht gezogen hätte, weil sie vom Bauchgefühl her nicht zusammenpassen.

      Wie z.B. Pommes mit Senf. Oder Heidelbeeren und Banane. Oder Markus Lanz und „Wetten Dass..?“ - ok, das hat tatsächlich nie zusammengepasst. Aber dafür der Song des „Grafen“ von Unheilig zur letzten Folge „Wetten Dass..?“ als persönliche „Hymne“ für mein absolut Irrwitziges, aber wohl irgendwie vorbestimmten Vorhaben, nach Berlin zu gehen.

      Bin ich aufgeregt? Seltsamerweise nicht besonders. Fürchte ich mich vor dem was da kommen mag, oder alles passieren und schiefgehen könnte? Komischerweise nicht!

      Es fühlt sich richtig an.

      Es ist das Ergebnis einer sehr langen Entwicklung. Ein Ergebnis einer Gleichung, deren einzelne Variablen extrem zufällig und willkürlich scheinen, sich aber als perfekt passende Mosaiksteinchen eines grandiosen Kunstwerks des Lebens entpuppen.

      Nicht, dass ich Kunst besonders mag. Das meiste ist eher „Wunst“.

      Doch wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

      Zufall? „Göttliche Fügung“? Schicksal?

      Welche Faktoren, Erlebnisse und Erfahrungen haben dazu geführt?

      [Die, deren Namen ich niemals ausspreche]? Mein Erzeuger und seine Möchtegern-Gangster-Gang? Die Schlampen-Uschi? Die Liberalisierung des Fernbusmarktes? Die Übernahme aus der Zeitarbeit? Die Serie „Scrubs“? 42?

      Die Antwort lautet: Ja!

      Das alles - und noch viel mehr!

       20

       

      Samstag, 28.04.2007, nachmittags

      Ein sonniger Samstagnachmittag. Ich sitze am PC und programmiere: irgendwas - ich weiß es nicht mehr genau, kann mir ja nicht jeden Quatsch merken.

      Nebenbei läuft „Scrubs - Die Anfänger“ im Röhrenfernseher, der praktischerweise genau über meinen PC-Monitor hängt.

      In ein paar Stunden geht es - abgesehen vom Forchheimer Annafest und dem Bayern3-Partyschiff - zu meinem persönlichen Highlight des Jahres: dem Thuisbrunner Frühlingsfest

      Klingt nach Dorf-Disse? Ist es im Endeffekt auch. Aber nachdem die einzig wahre Dorfdisco in Moggast drei Jahre zuvor abgebrannt ist (oder wurde - man weiß es bis heute nicht so genau) und in der nächstgelegenen Disco in Hirschaid überwiegend Hip-Hop statt Musik gespielt wird (#shitstorm), nimmt man halt was man kriegen kann.

      Das Leben ist öde, monoton und vorhersehbar und das ist in diesem Lebensabschnitt auch irgendwie gut so.

      Heute gibt es - wie eigentlich jeden Samstag - Schnitzel mit Pommes. Zubereitet in der Mikrowelle. Junggesellen-Bequemlichkeit. Immerhin saue ich so nur einen Teller ein, anstatt noch zusätzlich eine Pfanne und das Backblech zu verschmutzen. Außerdem geht es schneller.

      Schmeckt es? Naja, essen ist in diesem Lebensabschnitt ohnehin nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Ordentlich Discounter-Ketchup und Salz drauf und das Ganze ist halbwegs genießbar.

      Dr. Cox misanthropt sich gerade wieder durch das fiktive „Sacred Heart“. Irgendwie mag ich ihn. Nicht nur, weil ich auch kein besonders großer Fan von Menschen bin (bis auf wenige Ausnahmen), sondern weil er einfach einen so wunderbaren Sarkasmus drauf hat, manchmal aber auch extrem ernst und tiefgründig sein kann. Und weil ich bei seinem Nachnamen immer innerlich schmunzeln muss.

      Cox. Cocktail. Titikakasee.

      Pubertärhumor. Den darf man auch noch mit 22 haben. Vor allem, wenn man es im Leben noch nicht besonders weit gebracht hat.

      Ich bin Single, habe eine namenlose Katze, dank ehemaliger Selbstständigkeit - statt Ausbildung - ´nen Batzen Schulden, habe japanische Angst vor schlechten Wortwitzen, überlebe mit Zeitarbeit, habe eine kleine aber relativ günstige 30qm-Wohnung im 4. Stockwerk mit Balkon und einer grandiosen Aussicht Richtung Erlangen und zumindest ein paar Personen im engeren Kreis, die ich als „Freunde“ bezeichnen würde.

      Dass ich irgendwie „anders“ bin, war mir schon immer ein Stück weit bewusst. Auf Menschen zuzugehen oder ihnen gar zu vertrauen, fällt mir extrem schwer, für viele gesellschaftliche Normen habe ich keinerlei Verständnis und mir so wichtige Dinge wie Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und „Grundprinzipien“ scheinen irgendwie auch nur mir wirklich wichtig zu sein.

      Außerdem werde ich für meinen Musik- und Filmgeschmack belächelt („alt“ muss ja nicht gleich schlecht bedeuten), ich bin kein allzu großer Fan von Computerspielen und habe auch sonst zu den meisten Dingen eine vollkommen andere (dafür aber eigene) Meinung und Sichtweise.

      Manchmal komme ich mir vor wie ein Alien. Vielleicht bin auch einfach nur verrückt. Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna? Na wenigstens versteht mich meine Katze.

      Und Dr. Cox. Zumindest kommt es mir für einen sehr erhellenden Moment an diesen Samstagnachmittag so vor. Plötzlich bin ich auf das sonst so vor sich hinlaufende TV-Programm für einen kurzen Moment absolut fokussiert.

      Dr. Cox erklärt gerade mit ernster Miene einem seiner besten Freunde, dass sein kleiner Sohn vermutlich „Autismus“ hätte, weil er seine Bauklötze nach Farben sortiert, symmetrisch anordnet und Blickkontakt meidet.

      Ich frage mich, was daran so ungewöhnlich sein soll - ich habe das als Kind schließlich auch immer gemacht.

      Legowände in bunt gemischten Farben, die manche mangels Geschmack und Können als „abstrakte Kunst“ bezeichnen würden, konnte ich noch nie leiden. Und auch sonst lege ich sehr viel Wert auf Symmetrie und eine in sich logische Grundordnung.

      Ich konzentrierte mich wieder auf mein nachmittägliches Abendessen … Und was ist dieses „Autismus“? Zum Glück gehöre ich nicht mehr zur Generation „Brockhaus oder Bibliothek“ und kann mit wenigen Mausklicks nahezu alle Informationen dieser Welt aufrufen. Unbegreiflich, dass selbst dazu viele Menschen schlichtweg zu bequem/faul sind und lieber unwissend bleiben.

      Wikipedia teilte mir dazu mit:

      [..] Autismus (von altgriechisch autós ‚selbst‘) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Diese tritt in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und kann sich in einem oder mehreren der folgenden Bereiche zeigen:

      - Probleme beim wechselseitigen sozialen Umgang und Austausch (etwa beim Verständnis und Aufbau von Beziehungen)

      - Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation (etwa bei Blickkontakt und Körpersprache)

      - eingeschränkte Interessen mit sich wiederholenden, stereotyp ablaufenden Verhaltensweisen

      [..]

      Ok,