Gary Reich

Destination Berlin


Скачать книгу

fuhr ich zum ersten - und auch letzten Mal - zusammen mit einer Kollegin den großen Bogen vom Fahrradabstellplatz einmal um die ganze Lagerhallte herum durch das Ausgangstor - als plötzlich ca. drei Meter danach ein Bauch in meinem Sichtfeld auftauchte und ich samt Fahrrad plötzlich am Boden lag.

      Erst nach meinem reflexartigen „bist-Du-bescheuert“-Ausruf während des Aufstehens, realisierte ich, dass es sich bei dem ominösen Bauch um den Bauch meines Onkels Udo handelte.

      Meine Kollegin stand geschockt daneben und wusste nicht so recht, was dann da gerade passierte.

      Nun, ich auch (noch) nicht.

      Udo blaffte sie nur an, dass sie weiterfahren solle und schob ein pseudo-beruhigendes „alles in Ordnung, ich bin sein Onkel“ hinterher. Nach einem prüfenden Blickkontakt mit mir, ein „alles in Ordnung, fahr ruhig“ meinerseits und einem kurzen Überlegen ihrerseits, fuhr sie schließlich - immer noch recht irritiert - davon.

      Was sollte mir schon passieren? Immerhin war das hier keine dunkle Gasse, sondern ein öffentlicher Bereich, in dem permanent LKWs rein und Kollegen in Feierabendlaune hinaus fahren würden.

      „Du hast ja keine Ahnung, wie viele Leute Du gegen Dich aufgebracht hast!“, wetterte Rumpelstilzchen-Udo und machte eine winkende Geste zu dem noch leeren Bereich hinter sich.

      Plötzlich tauchten ca. 20 Leute auf, die fast in Zeitlupe auf mich zukamen. Es fehlte nur noch etwas Bodennebel und eine Steppenhexe, die durch die Szenerie rollt. Das Ganze wirkte etwas wie eine Low-Budget-Movie-Produktion der „Lebenshilfe e.V.“.

      Udo wiederholte grinsend: „Schau, die ganzen Leute hast Du gegen Dich aufgebracht!“

      Hmm, da waren mein Onkel Mike, seine Frau, ein paar ehemalige Kollegen, die Geliebte meines Erzeugers, zwei Kinder (die vermutlich die Reihen etwas auffüllen sollten) und etliche Leute, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.

      Mein Erzeuger war natürlich nicht dabei.

      Mike kam auf mich zu und murmelte einen offensichtlich zuvor auswendig gelernten Satz, an dem ich mich gar nicht mehr erinnern kann - obwohl er ihn sogar mehrfach wiederholte. Boah, muss DER Satz wichtig gewesen sein.

      Meine Tante hielt auch eine kurze Rede, auf die ich mich aber nicht wirklich konzentrieren konnte, weil plötzlich neben mir so ein Typ aufgetaucht war und mich mit nicht unerheblich russischen Dialekt fragte: „Kennt Du Russenmafia?“

      Anscheinend ein Statist mit nur einen Satz, denn auch nach mehrfachen nachfragen meinerseits „Wer bist Du überhaupt?“, kam als Antwort immer nur wieder der Satz mit der Russenmafia.

      Zwischenzeitlich hielt eine Kollegin mit dem Auto an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahte und rief ihr noch ein leicht locker gekünzeltes „bis morgen“ entgegen.

      Nachdem dann jeder aus der Gruppe (wie an einem Familien-Weihnachtsfest vor der Bescherung) sein Sätzlein aufgesagt hatte, standen wir nun so da und keiner wusste so recht, wie es denn nun eigentlich weitergehen sollte.

      Was für ein schlechtes Drehbuch.

      Zugegeben, mein Herzschlag war deutlich erhöht, aber anscheinend konnte ich meine innere Aufregung ganz gut verbergen, denn Udo schien sichtlich irritiert von meiner (gespielten) Gelassenheit.

      Das nutzte ich zu meinem Vorteil und preschte mit einem halbwegs gelassen und fast schon arrogant klingenden „Und nun?“ vor.

      Udo erwiderte: „Vielleicht solltest Du Dir nochmal genau überlegen, ob Du Dich mit all den Leuten hier wirklich anlegen willst.“

      Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, wie „Russenmafia-Ralle“ erneut zu seinem Standardsatz ausholen wollte, aber von meiner Tante zurück gehalten wurde. Braves Schoßhündchen. Der gehört definitiv zu den Leuten meines Erzeugers.

      Apropos Schoßhündchen: Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund folgte Udo unverzüglich meiner Aufforderung, die durch den Sturz abgesprungene Fahrradkette wieder aufzulegen.

      Vielleicht, weil er da schon merkte, dass er durch diese Aktion mehr Schaden angerichtet hatte, als sein eigentliches Ziel zu erreichen: mich einzuschüchtern

      Als jemand mit Anstand bedankte ich mich (höhnisch) grinsend und fragte fast schon spöttisch:

      „Ist noch irgendwas, oder darf ich jetzt fahren?“

      Mit einer etwas widerwilligen Geste ließ er mich gewähren und murmelte noch ein mittlerweile deutlich kleinlauter klingendes „Überlegs Dir!“.

      Spätestens jetzt war klar, dass er sich die Situation in der Theorie wohl ganz anders vorgestellt hatte. Das stachelte mich nur dazu an, beim Vorbeifahren den Leuten zuzuwinken und mich mit einem „Tschüss, bis zum nächsten Mal“ und einem fetten Grinsen zu verabschieden.

      Ja, mein Herzschlag war immer noch stark beschleunigt, aber ich spürte eine gewisse Überlegenheit über diese Knallköpfe, die dumm genug waren, so eine Aktion so derart öffentlich und somit vor zahlreichen potenziellen Zeugen durchzuführen.

      Immerhin sollte mein Onkel Udo in diesem Punkt noch dazu lernen.

      Ich für meinen Teil war an diesen Tag erstmal erleichtert, als ich in meiner sicheren Wohnung ankam.

      Doch sollte ich sie und vor allem meinen Erzeuger damit durchkommen lassen?

      Wohl eher nicht …

       37

      Montag, 23. Februar 2004

      Welches Ereignis verändert einen Menschen am meisten? Die Pubertät? Geld? Macht? Der erste Döner?

      Das Ereignis, dass sich ohne Übertreibung als einer der wichtigsten Wendepunkte in meinem Leben bezeichnen lässt, wurde am Rosenmontag 2004 eingeleitet.

      Ein Tag, an dem ich begann, einige Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das Vorhandensein potenzieller Fehlbarkeit von Elternteilen langsam aus dem Unterbewusstsein in das Bewusstsein wechselte und eine Kette von Ereignissen ausgelöst wurde, die mich letztendlich auch mit zu einem Menschen gemacht hatten, den es 11 Jahre später in seine neue Wahlheimat nach Berlin ziehen würde.

      Eigentlich war es ein ganz normaler Tag. Ich war junge 18 Jahre alt, war mit der Schule fertig, durfte Auto fahren, begann langsam das Nachtleben für mich zu entdecken, wohnte noch bei meinen Eltern in Unterleinleiter - und arbeitete als Selbstständiger für die Firma meines Erzeugers in Forchheim, für den ich damals noch das „V-Wort“ verwendete.

      Mike, Udo und Mike´s Karin arbeiteten ebenfalls für ihn - also ein richtiger Familienbetrieb mit noch einigen zusätzlichen Angestellten.

      Ich hatte dort mit meiner Einmann-Firma (die hauptsächlich für ihn gearbeitet hatte) ein eigenes kleines Büro und arbeitete i.d.R. von 7 bis 17 Uhr - mein Erzeuger kam und ging meistens vor und nach mir. Zumindest bis zu diesem Tag …

      Kurz vor 17 Uhr kam mein Onkel Mike in mein Büro und fragte, ob ich wüsste wo der „Meister“ (so nannten einige damals in der Firma meinen Erzeuger) wäre. Er hätte sich vor einer halben Stunde bei ihm für heute verabschiedet und meine Mutter hätte angerufen und gemeint, dass er sie angerufen hätte, total seltsam gewesen wäre und gemeint hätte, nicht mehr nach Hause zu kommen.

      Obwohl der „große Meister“ streckenweise einen noch seltsameren Humor hatte als ich, kam mir die Situation etwas eigenartig vor, wobei ich das Ganze zunächst trotzdem nicht besonders ernst nahm. Vielleicht wollte er eine kleine Überraschung für meine Mutter vorbereiten und daher rechnete ich fest damit, dass er vor mir zu Hause wäre.

      Also eine Überraschung gab es tatsächlich … Nur nicht eine ganz so kleine!

      Zuhause angekommen war da: Mein kleiner Bruder und meine Mutter, die mir genau das erzählte, was mir Mike zuvor erzählt hatte. Was zum Teufel war denn jetzt auf einmal los hier? Ein