groß gemachter Betrug. »Wenn es anders wäre«, fragte Marder erbittert, »müßte ich dann nicht der erste Mann im Staate sein? Wäre die ungeheure Kraft und Kompetenz meines Hirns nicht dazu berufen, alle wesentlichen Dinge öffentlichen Lebens zu entscheiden – während heute, da jeder Instinkt und Maßstab für echten Rang abhanden kam, meine Stimme nur die beinah überhörte des öffentlichen schlechten Gewissens ist!« Seine Augen glühten, sein hageres Gesicht, dessen Blässe zu der Schwärze des Schnurrbarts kontrastierte, war verzerrt. Um ihn zu beruhigen, erinnerte Nicoletta daran, daß die Stücke keines anderen lebenden Autors so häufig aufgeführt würden wie die seinen. Er lächelte mit flüchtig befriedigter Eitelkeit. Aber schon nach wenigen Sekunden verfinsterte er sich wieder. Plötzlich schrie er Hendrik Höfgen an, der innig vertieft in sein Gespräch mit Barbara saß: »Haben Sie vielleicht gedient, Herr?«
Hendrik, überrascht und entsetzt von so drohender Anrede, wandte ihm ein ziemlich fassungsloses Gesicht zu. Marder aber verlangte: »Antworten Sie, Herr!« Hendrik brachte, mühsam lächelnd, hervor: »Nein, natürlich nicht … Gott sei Dank nicht …« Darauf lachte Marder triumphierend.
»Da sieht man es wieder! Keine Disziplin! Keine Persönlichkeit! – Haben Sie vielleicht Disziplin, Herr? Sind Sie vielleicht eine Persönlichkeit? – Alles Talmi, alles Ersatz, Plebejertum, wohin ich immer schaue!«
Das war eine Impertinenz; Hendrik wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte Zorn in sich hochsteigen; um der Damen willen, und auch, weil Marders Ruhm ihm imponierte, entschloß er sich, einen Skandal zu vermeiden. Übrigens hielt er den Schriftsteller für nervenkrank. Welch erstaunliche und erschütternde Veränderung aber ging nun vor mit Marder, der eine schauerlich gedämpfte Stimme und prophetische Augen bekam!
»Das alles wird gräßlich enden.« Er raunte es – in welche Fernen oder in was für Abgründe schaute jetzt sein Blick, der mit einemmal eine so fürchterlich durchdringende Kraft bekam? »Es wird das Schlimmste geschehen, denkt an mich, Kinder, wenn es da ist, ich habe es vorausgesehen und vorausgewußt. Diese Zeit ist in Verwesung, sie stinkt. Denkt an mich: Ich habe es gerochen. Mich täuscht man nicht. Ich spüre die Katastrophe, die sich vorbereitet. Sie wird beispiellos sein. Sie wird alles verschlingen, und um keinen wird es schade sein, außer um mich. Alles, was steht, wird zerbersten. Es ist morsch. Ich habe es befühlt, geprüft und verworfen. Wenn es stürzt, wird es uns alle begraben. Ihr tut mir leid, Kinder, denn ihr werdet euer Leben nicht leben dürfen. Ich aber habe ein schönes Leben gehabt.«
Theophil Marder war fünfzig Jahre alt. Er war mit drei Frauen verheiratet gewesen. Er war angefeindet und ausgelacht worden; er hatte den Erfolg, den Ruhm und auch den Reichtum kennengelernt.
Da er schwieg und nur erschüttert keuchte, sprachen auch die anderen, die mit ihm am Tisch saßen, kein Wort; Nicoletta, Barbara und Hendrik hatten die Augen niedergeschlagen.
Marder aber änderte jäh die Stimmung. Er schenkte Rotwein ein und wurde charmant. Höfgen, den er eben noch beleidigt hatte, machte er nun Komplimente über sein begabtes Spiel. »Ich weiß es wohl«, sagte er gönnerhaft, »die Rolle ist blendend, mein Dialog unvergleichlich pointiert. Aber die Jammergestalten, die sich heute Schauspieler nennen, bringen es fertig, selbst in meinen Stücken schwunglos langweilig zu sein. Sie, Höfgen, haben immerhin eine Ahnung davon, was Theater ist. Unter den Blinden fallen Sie mir als der Einäugige auf. Prost!« Dabei hob er das Rotweinglas. »Mit unserer Barbara scheinen Sie sich ja nicht übel zu unterhalten«, sagte er launig. Barbara begegnete seinem anzüglichen Lächeln mit ernstem Blick. Hendrik zögerte, ehe er mit Theophil anstieß: die forsche Redeweise des Dramatikers im Zusammenhang mit dem wunderbaren Mädchen Barbara empfand er als unpassend. Es schien, daß Marder, der nicht nur mit seiner Kenntnis von Weinen und Saucen, sondern auch mit seinem untrügbaren Instinkt für den Wert einer Frau dröhnend renommierte, Barbara überhaupt nicht bemerkte. Augen hatte er nur für Nicoletta, die es ihrerseits sorgsam vermied, den zärtlichen und besorgten Blick zu erwidern, den Barbara zuweilen auf sie richtete.
Marder bestellte Champagner zu den Süßigkeiten, die der feine Ober eben servierte. Es war nach Mitternacht; das gediegene Lokal, in dem es keine Gäste mehr gab außer diesen vier sonderbaren, hätte längst seine Pforten geschlossen; aber Marder gab den Kellnern zu verstehen, sie würden anständige Trinkgelder bekommen, wenn sie ein wenig länger als gewöhnlich ihren Dienst taten. Der große Satiriker, das wachsame Gewissen einer verderbten Zivilisation, zeigte jetzt sein Talent zur harmlosen Gemütlichkeit. Er erzählte Witze, und zwar sowohl solche aus preußisch-militärischer als auch andere aus östlich-jüdischer Sphäre. Ab und zu schaute er Nicoletta an, um zu konstatieren: »Prachtvolles Mädel! Disziplinierte Person! Heute sehr seltene Sache!« Oder er betrachtete sich Höfgen und rief munter: »Dieser sogenannte Hendrik – eine dolle Type! Kolossal ulkiges Phänomen! Macht mir Spaß. Muß ich mir notieren!«
Hendrik ließ ihn reden, prahlen und strahlen. Er gönnte ihm jeden Triumph. Nicht die mindeste Lust empfand er, mit ihm in Konkurrenz zu treten. Mochte Marder diese kleine Tafelrunde beherrschen: Hendrik lachte fröhlich zu seinen Scherzen. Der Genuß, den Höfgen aus der Situation bezog, war ein zarter und origineller: Angesichts von Theophils krasser Wohlgelauntheit fühlte er sich selber still und fein werden – was ihm selten geschah. Als stiller, feiner Mensch mußte er auch dem Mädchen Barbara erscheinen, die für Marders schmetternde Art wahrscheinlich gar nicht viel übrig hatte. Hendrik fühlte, daß Barbaras prüfender Blick mit sympathievoller Neugierde auf ihn gerichtet war. Er glaubte zu wissen, daß er dem Mädchen gefiel. Schönste Hoffnungen erfüllten sein bewegtes Herz.
Man trennte sich spät und in bester Stimmung. Hendrik machte seinen Heimweg zu Fuß. Er mußte über Barbara nachdenken. Das Gefühl einer reinen Verliebtheit war völlig neu für ihn, und wurde übrigens angenehm gesteigert durch die Wirkung der starken und erlesenen alkoholischen Getränke. ›Was ist das Geheimnis dieses Mädchens?‹ sann der Entzückte. ›Ich glaube, es ist das Geheimnis der vollkommenen Anständigkeit. Sie ist der anständigste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Sie ist auch der natürlichste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Sie könnte mein guter Engel sein.‹
Er blieb stehen, mitten auf der Straße, die Dunkelheit war mild und duftete. Es war ja schon beinah Sommer. Er hatte gar nicht gemerkt, daß es einen Frühling gegeben hatte. Und nun war schon beinah Sommer. Sein Herz erschrak vor einem Glück, von dem es niemals gewußt hatte, auf das es sich durch keine zarte Übung vorbereitet fand.
›Barbara wird mein guter Engel sein.‹
Vor der Zusammenkunft mit Prinzessin Tebab am nächsten Tage hatte Hendrik die größte Angst. Er mußte die Tanzmeisterin bitten, ihre Besuche bei ihm bis auf weiteres einzustellen: zu diesem Entschluß zwang ihn sein neues, großes Gefühl für das Mädchen Barbara. Aber er litt jetzt schon bei dem Gedanken, Juliette nicht mehr sehen zu dürfen, und übrigens bebte er vor dem Ausbruch ihres Zornes. Er gab sich Mühe, ihr die veränderte Situation auf ruhige Art zu erklären; aber seine Stimme zitterte, kein aasiges Lächeln wollte ihm gelingen, vielmehr wurde er abwechselnd bleich und rot, große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Juliette tobte, schrie ihn an, sie lasse sich nicht wegschicken wie die erste beste, und sie werde diesem Fräulein Nicoletta, um derentwillen ihr solches zugemutet ward, beide Augen auskratzen. Hendrik, der darauf gefaßt war, gleich die Peitsche zu sehen, bat sie, sich zu mäßigen, und betonte, daß Fräulein von Niebuhr nichts zu tun habe mit der ganzen Angelegenheit.
»Du hast mir gesagt, daß ich das Zentrum deines Lebens bin, und all so’n Quatsch«, keifte Prinzessin Tebab.
Hendrik biß sich die bleichen Lippen und versuchte, Entschuldigungen vorzubringen.
»Gelogen hast du!« schrie die Fürstentochter. »Ich meinte immer, du lügst dich selber an – aber nein, mich hast du angelogen – man weiß immer noch nicht, wie gemein die Menschen sind!« Ihre grollende Stimme und ihre Miene drückten drastisch echte Empörung und die bitterste Enttäuschung aus. »Aber ich laufe dir nicht nach«, schloß sie stolz. »Ich bin keine solche, die hinter jemandem herläuft. Wenn du jetzt eine andere hast, die dich verhaut, wie ich es gekonnt habe – bitte sehr!«
Hendrik war froh darüber, daß sie ihm nicht nachlaufen würde. Er machte ihr ein Geldgeschenk, das sie murrend akzeptierte.