Daimon Legion

In die grüne Tiefe hinab


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wenige Sekunden, denn sie tauchte sofort ab, aus Angst, von jemandem entdeckt zu werden, der unbedacht vorbeikam. Zufällig ein Polizist, der nach einer Vermissten suchte. Zufällig Florian, der an sie dachte. Vielleicht auch nur der alte Mann mit seinem Dackel, der sagen konnte: „Moment, war da gerade ein Mädchen im Wasser? Das ist doch verboten!“

      Offenbar hatte niemand sie gesehen. Keiner näherte sich dem Ufer oder schlug Alarm.

      Es wurde dunkel. Die grüne Tiefe wurde schwärzlich. Die rote Dämmerung der Abendsonne schimmerte durch die klaren Wellen, als Una einen letzten Teller nach draußen warf. Dumpf glaubte sie, ihn an Land zerschellen zu hören.

      Die Tiere zogen sich vom Ufer zurück. Alle wünschten ihr eine gute Nacht und gaben Dank für ihre Hilfe. Sie meinten, Una habe gut gearbeitet und sollte sich nun wohlfühlen im See. Una verabschiedete sich von einer Krebsdame namens Valerie und einem Blei, der auf Rüdiger hörte.

      Lorin gähnte.

      „Für uns war es das erst mal. Morgen gibt es sicher neuen Dreck, das Wochenende steht an“, prophezeite Arnold.

      „Und den Rest schafft Sharik allein?“, fragte Una und wies mit den Daumen auf die Waschmaschine und die Fässer. Ein alter Teppich war auch dabei. Zwar hatte sie sich selbst daran versucht, doch die Aufgabe als zu schwer empfunden.

      „Er ist stärker, als er aussieht“, lachte Penina. „Das kriegt er locker hin.“

      „Und was mach ich jetzt?“, war ihre nächste Frage.

      „Du kannst dir einen schönen Ort suchen, an dem du die Nacht über schlafen kannst“, schlug ihr Arnold vor. „Du kannst dir ein Bett aus Algen machen. Oder vielleicht finden wir eines Tages eine weggeworfene Matratze, wenn dir das lieber ist. Wenn du manches Weggeworfene gebrauchen kannst, müssen wir es nicht aus dem See schaffen. Du behältst es. Sogar der Herr sammelt die ein oder andere Kleinigkeit.“

      Das machte für Una schon Sinn. Sie hatte auch bereits etwas im Blick, als ihr Magen sie plötzlich schmerzlich an etwas sehr Wichtiges erinnerte.

      „Ich hab langsam Hunger“, sagte sie. „Und … gibt es hier so was wie eine Toilette?“

      Die drei schienen leicht belustigt.

      „Ich frag mal den Herrn, ob er noch etwas in Reserve hat“, schmunzelte die Muschel und trieb davon.

      Auch Lorin feixte Una zu. „Du weiß aber schon, was du dann isst?“

      Ihr kam ein grausiger Verdacht.

      „Menschen … -fleisch?“

      „Eben!“

      Das Mädchen überlegte ernsthaft, ob sie das hinter sich bringen konnte, ohne zu kotzen. Aufgedunsenes Fleisch von irgendeinem armen Ertrunkenen aus dem letzten Herbst. Es war zu widerlich.

      „Und was die Toilette betrifft“, fügte Penina hinzu, „nun, halte es, wie in der Natur üblich. Such dir eine Ecke und lass fallen.“

      „Darin hat sie Übung“, spottete Lorin und lag mit dem Fisch gleich wieder im Streit.

      Möglicherweise war Una verwöhnt von der Zivilisation der modernen Menschen. Selbst in Indien wären die Hygienebedingungen mancherorts für sie eine Zumutung gewesen. Was der grüne See ihr bot, war das Leben eines Wassertiers, ohne Bad und WC, ohne Bett, ohne Fernseher, ohne Smartphone.

      Sie atmete tief durch.

      „War ein langer Tag für dich“, verstand Penina und sanft streiften ihre Flossen Unas Nasenspitze. „Du bist sicher müde und erschöpft von all den verrückten Dingen, die heute passiert sind. Such dir ein weiches Lager und mach es dir bequem. Wenn du etwas brauchst, kannst du jeden von uns fragen.

      Ich werde mich jetzt auch hinlegen. Ich habe da ein hübsches Schlammloch, das ich mein Eigen nenne.“

      „Ich hab mir ein Nest aus Wurzeln zu einer Hängematte zusammengebunden“, erwähnte Lorin und gähnte erneut ausgiebig. „War ein aufregender Tag und jetzt ruft die Falle. Bis morgen, Unilein. Nina“, grüßte er knapp und paddelte von dannen.

      „Er tut nur so müde“, raunte ihr die Karausche zu. „Er trifft sich abends noch mit einem Moorfrosch und einer Unke, um zu quaken.“

      Aha.

      Eine der Ruinen sollte es sein, in die Una einziehen wollte. Eine halbwegs menschliche Behausung – ein schlichtes Bauernhaus – wenn auch schon kein Dach mehr vorhanden war und die meisten Mauern Schutthügeln glichen.

      Sie fragte Penina, bevor diese aufbrach, ob sie Moose oder Algen nehmen könnte, um eine steinerne Liege damit zu polstern. Die Freundin riet zu Moos, beauftragte einen Krebs für die Arbeit des Abtragens und kurz darauf hatte das Mädchen eine relativ weiche Schlafstätte. Das war aber auch alles.

      Es würde Tage oder gar Wochen dauern, bis sie sich eingelebt hatte und noch länger, bis sie sich geborgen fühlte.

      Ob sie morgen früh ein paar Pflanzenranken so richten konnte, dass ein Baldachin über der offenen Zimmerdecke entstand? Zwar wäre es auf die Art noch dunkler im Raum, aber sie hätte dann eigene vier Wände. Was könnte sie sammeln, um ihr Reich zu schmücken? Um sich an früher zu erinnern? An das Leben oben … an zu Hause …

      Keine Bilder. Keine Fotos.

      Irgendwann würde sie vergessen, wer sie war. Wie sie aussah.

      Sie dachte an einen Spiegel. Das würde gehen. Aber wollte sie wirklich in das reflektierende Glas sehen, während sie mehr und mehr ein vollwertiger Wassergeist wurde? Ein grässliches, spitzzahniges Ungeheuer mit Fischleib? Wie -

      „Brichst du immer noch in Tränen aus?“

      Seine unfreundliche Stimme ließ sie zusammenfahren.

      Sharik lehnte im leeren Türbogen, die Arme vor der Brust verschränkt. In der nächtlichen Schwärze war er nur schwer auszumachen. Sein plötzliches Auftauchen überraschte Una. Weder hatte sie ihn erwartet, geschweige denn gehört. Sie kam sich vor wie eine Jagdbeute, die sich nicht gegen den lautlosen Räuber der Tiefe wehren konnte.

      „Arnold sagte, du hast gut mitgemacht“, sprach er gedehnt. Es klang aus seinem Mund nicht nach einem Lob.

      „Ich habe getan, was ich konnte“, entgegnete sie ihm kühl.

      Er brummte kurz etwas Unverständliches und kam in den Raum hinein. Una wich vor ihm zurück.

      Ihr Bett nahm er kritisch in Augenschein, sagte jedoch nichts dazu.

      Dann betrachtete er sie von oben bis unten. Es war ihr sehr unangenehm.

      „Du hast dich nicht verändert“, stellte er mit Verachtung fest. Seine langen Finger strichen über den Stoff ihrer Jacke. Die Nägel kratzen darauf. „Und du trägst immer noch dieses Menschenzeugs.“

      „Mir ist halt kalt.“

      „Blödsinn“, knirschte er mit seinen spitzen Fischzähnen und seine Krallen rissen mit einem blitzschnellen Ruck die Nähte des Anoraks auseinander. Ängstlich zuckte Una weiter vor ihm zurück, bis sie die morsche Mauer im Rücken hatte.

      „Einem echten Wassergeist ist nie kalt!“, fauchte er sie an. Sein Tonfall klang vor Wut ganz heiser. Die Nüstern seiner flachen Nase blähten sich, goldene Augen glänzten boshaft im Dunkeln. „Menschen tragen Kleider, weil sie schwach sind gegenüber den Elementen. Sie tragen sie zum Schutz.

      Ich muss mich nicht schützen. Und du solltest es auch nicht.“

      Ihr furchtsames Herz hätte auf Hochtouren in ihrer Brust schlagen müssen, als sie mit bebender Stimme erwiderte: „Ich bin nicht wie du. Du bist ein Monster.“

      Sie hörte den kalten Zorn in seiner Kehle grollen.

      „Du hast keine Ahnung, wer das Monster ist“, flüsterte er gepresst.

      Augenblicklich wandte Sharik sich von ihr ab, schwamm zum Ausgang. Dünnes Mondlicht beschien seinen grün gefleckten