Daimon Legion

In die grüne Tiefe hinab


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in das Innere einer Behausung. Spuren von Menschen gab es schon lange nicht mehr. Dafür krabbelten unzählige Kleintiere vor ihr davon, hinein in die schützende Wasserpflanze, die hoch wie ein Baum wuchs. So manches Grün besaß hier unten gigantisch wirkende Ausmaße.

      Neben den gewöhnlichen Seebewohnern begegnete die Gemeinschaft weiteren sprechenden Gestalten. Ein Sonnenbarsch grüßte sie salopp, Lorin klatschte sich mit einem Molch ab und eine Elritze beäugte Una überaus interessiert. Penina musste hartnäckig auf sie einreden, um sie davon abzuhalten, der Partie zu folgen. Um gaffendes Publikum hatte auch Una nicht gebeten.

      Was für seltsame Viecher, dachte sie und versuchte, das rege Treiben im Unterwasserwald auszublenden.

      Nach einer Weile ließen sie den lebhaften Teil des Sees hinter sich. Die Landschaft verödete, wurde karg und rau wie ein verwaistes Gebirge. Der Boden wurde immer abschüssiger und führte noch tiefer in das Seeinnere. Nur wenige Stängel und Algen wuchsen und gerade mal ein paar bleiche Krebse krochen vor ihnen her. Das aufkommende Licht des Tages wurde in der Tiefe immer schwächer.

      Und unvermutet erschien in der trüben Dunkelheit ein Graben. Gleich einem Schlund tat er sich auf und gähnte breit mit seiner scharfkantigen Kluft. Wie weit musste es hier nach unten gehen, wenn kein Sonnenstrahl den wahren Grund des Sees je erreichte? Von außen hatte das Wasser so friedlich gewirkt. Bestimmt wusste kein Mensch in der Großstadt, dass dieser unscheinbare alte Badesee derart abwärts führte. Hätten sie es gewusst, wäre mit Sicherheit niemand auf den Gedanken gekommen, auch nur den kleinen Zeh ins Wasser zu tauchen.

      Vorsichtig lugte Una über den Rand der Erdspalte und verspürte dasselbe Unbehagen wie vor der Begegnung mit dem Wassergeist. „Lasset alle Hoffnung fahren“, beschrieb das Gefühl am besten.

      „Dort unten lebt er?“, war sie ungläubig.

      „Ja, derzeit“, bestätigte Arnold. „Zumindest solange er im Winter schläft. Dort unten ist das Zentrum des Sees, also die Quelle. Der Herr ist der Einzige, der weiß, wie es da aussieht. Uns ist es verboten, bis in die endgültige Tiefe vorzudringen. Manchmal kommt es aber vor, dass wir ihn wecken müssen.“

      „So wie heute“, erinnerte Penina alle und schwamm voraus. „Ich werde gehen. Oder will einer von euch?“

      Arnold und Lorin, der vorgab zu pfeifen, wirkten nicht sehr begierig auf das Unternehmen.

      „Hasenfüße“, bemerkte die Karausche abfällig.

      „Diese Schlucht ist echt gruselig“, sagte Una mit einem zweiten Blick ins Dunkel. „Ich kann verstehen, warum sie keine Lust haben.“

      „Der Graben ist nicht das Ding“, verteidigte sich der Frosch erstaunlich ernst, „doch Sharik hat stets schlechte Laune, wenn man ihn so früh im Jahr weckt. Ich würde mir das dreimal überlegen, Nina.“

      „Seine Laune wird auch nicht besser sein, wenn wir ihm die Nachricht vorenthalten“, meinte Penina. Mit einem gewitzten Schlenker zischte sie hinab in die Finsternis. Nach wenigen Zügen war ihre Schwanzflosse verschwunden.

      „Ha!“, lachte Lorin freudlos auf. „Die sind wir los.“

      Una hoffte, dass es bloß sein üblicher Zynismus war. Wenn dieser Wassermann wirklich ein brutales, stumpfsinniges Monster sein sollte, wollte sie lieber freiwillig den See verlassen und ins Unbekannte aufbrechen, als auch nur einen Moment mit ihm zu erleben. Von Peninas so sehnlich gewünschten Intimitäten ganz zu schweigen. Sie könnte niemals ein solches Ungeheuer lieben.

      Was soll das hier werden?, dachte sie. Die Schöne und das Biest in Wasserversion?

      Bevor der Ekel sie bezwang, versuchte sie ihn zu verspotten.

      „Herr?“

      Von unten, aus dem Dunkel, hörten die drei Penina rufen.

      „Herr? Mein Herr!“

      Die Erdspalte musste wirklich sehr tief sein. Ihre Stimme brach sich an nackten Felswänden und nach oben drang bloß ihr von Zeit verzerrtes, blechern klingendes Echo.

      Angestrengt lauschte Una auf einer Reaktion. Erneut rief Penina, nannte ihn laut beim Namen – „Sharik!“ – und nach einer scheinbar langen Pause hörte sie ihn endlich sprechen.

      „Wer stört?“

      Eine kalte Stimme.

      Nun, zumindest nicht die eines morschen Opas, musste sie zugeben. Im Gegensatz zu ihrer eigenen, klang diese klar verständlich, nur leise, fast heiser, und wirkte äußerst verschlafen. Dazu gereizt. Una lauschte einem langen, knurrenden Gähnen und Luftblasen stiegen etwas später auf.

      „Ich bin es, Penina.“

      Er ließ abermals mit einer Antwort auf sich warten.

      „Ach ja … Die blöde Schickse, die meinte, in meinen See zu pissen …“

      Diesmal zeigte er sich deutlich verärgert. Noch mehr aber wunderte Una das Gesagte. Es schien beinahe so, als sei die Fischfrau ein Mensch gewesen. War das möglich?

      „Ich kann nicht oft genug sagen, wie leid mir das tut“, sagte Penina halblaut. Sie schämte sich.

      Sharik streckte sich vermutlich. Jedenfalls hörte Una so eine Art Stöhnen von ihm, bevor er redete: „Das macht es auch nicht besser. Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht zum Strudelwurm degradiert habe.

      Warum weckst du mich? Es ist noch Winter. Ich bin müde, lass mich schlafen.“

      „Ich bedaure, doch es ist dringend!“, erklärte sie gewissenhaft. „Es geschah in der Nacht, am nordwestlichen Ufer. Ich war dort mit Lorin und Arnold, als plötzlich, wie aus dem Nichts -“

      „Spar dir langes Umschweifen“, unterbrach der Wassermann sie barsch.

      „Ein Mädchen ist im See ertrunken, Herr! Erst dachten wir, sie wäre von selbst durch das Eis ins Wasser gegangen, aber dann sagte sie uns -“

      Scharf fuhr er ihr ins Wort: „Sie sagte? Sie ist zurückgekommen?“ Er wirkte mit einem Schlag hellwach.

      „Aber ja. Oder habt Ihr sie ertränkt? Das Mädchen ist jedenfalls überzeugt -“

      Penina kam nochmals nicht zum Ausreden.

      Ein Rauschen drang von unten herauf.

      Lorin brüllte ein hastiges: „Weg hier!“, auch wenn Una nicht wie gewollt wegkam. Sie trudelte im Gehen abseits, das Wasser verlangsamte ihre Bewegungen, bevor sie sich wieder auf das Schwimmen besann und so mit einem etwas unkoordinierten Paddeln rascher fortkam von dem Graben, aus dem, versetzt mit unzähligen Luftblasen, ein starker Strom schoss. Ein fremdartiges Geschöpf wurde mit dem Katarakt aus dem Spalt gespien, das sie prompt mit grimmigen Augen erfasste. So schnell, wie es erschienen war, schwamm es gleich einem Torpedo auf das Mädchen zu.

      Vor Schreck fiel Una rücklings auf den Boden.

      Dieses Wesen bewegte sich ruckartig und flach über den schroffen Felsgrund, ähnlich einer jagenden Spinne. Langgliedrige Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern griffen fest in Stein und Schlamm. Der Wassermann drückte sie nieder, über sie gebeugt, weiter zurückdrängend, auch wenn Una nicht mehr weichen konnte. Und bei allem, was ihr heilig war – wenn sie hätte flüchten können, hätte sie es getan.

      Was hatte sie sich vorgestellt? Erwartete sie einen echten König Triton? Einen väterlichen Greis, einen alten Krieger, halb Mensch, halb mit Fischschwanzflosse? Eine Kreatur, die ihr aus den Märchenbüchern und Filmen vertraut wäre?

      Doch er, Sharik, war gerade mal vom Körperbau einem Menschen halbwegs ähnlich. Ein Kopf, Schultern, seitlich zwei sehnige Arme, ein männlicher, drahtiger Oberkörper … aber er besaß keine rosafarbene Haut, er war mit Schuppen bedeckt. Feine weiße Fischschuppen zierten das hagere, haarlose Gesicht, seinen Hals, Brust, Bauch und die Arminnenseiten. Sie gingen in gröbere, grün schimmernde Schuppen über. Muster zeichneten sich dunkler ab. Sein Haupthaar war lang und grünlich. Wie Algen schwang es wild mit dem Wassersog.