Daimon Legion

In die grüne Tiefe hinab


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werden. Eines König Tritons wahrscheinlich, greis und mit Fischschwanz, der ihr, seiner jungen Braut, gierig nachstellen konnte. Bis zu dem Tag, an dem ihr selbst Schuppen und Flossen wuchsen.

      Der Tag, an dem sie kein Mensch mehr sein würde.

      Ihr wurde schlecht. Dieses zweite Leben schien sich zu keinem besseren zu entwickeln. Sie vermisste ihr altes Selbst, ihr altes Dasein. Sie vermisste ihre Eltern, sie vermisste Kieran. Und Florian. Ja, vermisste gar die Schule und die zickigen Weiber aus ihrer Klasse.

      Wann sie wohl als vermisst gelten würde? Waren die Mitschüler schon auf und hatten ihr Fehlen bemerkt? Wer würde sie suchen? Würde sie jemand in diesem See vermuten? Würde die Polizei Taucher aussenden, um sie zu finden? Würden sie den Grund des Sees nach ihr absuchen und sie vielleicht mit diesen drei Tieren antreffen, sprechend und untot? Am Ende fänden sie möglicherweise diesen Wassermann …

      Es schmerzte sie, wenn sie an ihre Eltern dachte. Die würden einen Anruf bekommen, ihre Tochter sei verschwunden, vermutlich tot. Wie sie weinen würden. Es würde sehr still werden im Haus und Kierans Vergehen wären bedingungslos vergessen, jetzt, da er ihr einziges Kind war.

      Unas Zimmer würde eine Zeit lang bestehen … Irgendwann aber würden ihre Sachen in Kartons verschwinden, in den Keller gebracht werden. Und eines Tages würde man sie vergessen haben. Nur noch ein Foto, ohne Stimme und Charakter. Eine klägliche Erinnerung.

      Während sie im See lebte.

      „Wer hat mich umgebracht?“, flüsterte sie leise und ihre Worte drangen kaum durch das Wasser. „Wer hat mich getötet und mich meiner Familie, meinen Freunden weggenommen?

      Ich hatte mein Leben doch noch vor mir …“

      Kalte, glitschige Finger hatten sie davongerissen. Hatten sie ins Grab gezogen.

      „Wer ist es gewesen?“ Langsam stieg die Wut in ihr auf. Ihre Angst rückte mehr und mehr in den Hintergrund und Una kochte vor Zorn auf dieses falsche Locken, welches ihr zum Verhängnis geworden war. Zauber, ja. Sie war von einem mystischen Wesen verzaubert worden! Einem trügerischen Geschöpf, fern vom Angesicht eines Menschen.

      „Hat er mich ertränkt? Euer Herr vom See?“, rief sie laut, dass die drei Tiere zurückschreckten. „Ist er es gewesen? Ein Wassergeist? Hat er sich verwandelt und mir vorgespielt, ein Freund zu sein? Hat er mich getötet?“ Mit jeder Frage bebte Una stärker vor Hass. Ihren ganzen Frust wollte sie durch den See schreien! Sollte er sie hören und ihre Wut spüren! Dieser alte Stockfisch konnte was erleben!

      „Komm runter!“, befahl ihr Lorin. „Hast du uns nicht zugehört? Unser Herr hat dir nichts getan! Das wissen wir, hieb- und stichfest!“

      „Und wieso seid ihr euch so sicher?“, fragte Una erbost. „Ich denke, es gibt nur einen Wassermann im See! Wer, wenn nicht er?“

      „Das wissen wir nicht“, versuchte Penina, sie zu besänftigen, „doch er war es nicht. Unser Herr schläft den Winter über. Erst gegen Ende des Monats, Anfang April, wenn es wärmer wird, wird er aufwachen. Er wird hungrig sein, aber er hätte dich niemals angegriffen, ohne dich zu töten und deine Seele zu nehmen! Verstehst du? Er hätte nie zugelassen, dass du zurückkommen kannst!“

      „Meine Seele hätte er genommen?“, war Una sofort entsetzt.

      „Ja, für den See. Als Kraftquelle, wie gesagt“, war Arnold bei der Aussage pragmatisch. „Dein Körper dient ihm allein zur Nahrung. Auch ein Indiz dafür, dass er kein Verschulden an deinem Zustand hat, sonst wärst du nur noch Knochen.“

      „Er hätte mich gefressen?“

      „Natürlich.“

      „Er isst Menschenfleisch?“

      „Nichts ist so weich und saftig wie eine Wasserleiche“, lachte Lorin.

      Una wurde abermals schlecht, allerdings mehr vor Ekel.

      „Das ist barbarisch!“, war sie überzeugt.

      „Was denn?“, blieb die Muschel ungerührt. „Hast du nie Forelle gegessen? Oder Hummer? Bestimmt gehen ganze Schweine- und Rinderherden auf dein Konto. Frag mal ein Huhn, ob das nicht barbarisch ist. Menschen bilden sich ganz schön was auf sich ein.“

      Er hatte recht, das konnte sie nicht abstreiten. Sie gab einer sprechenden Muschel trotz aller Unlogik recht. Selbst eine noch so lange Diskussion über Veganismus hätte sie sicherlich verloren.

      Erschöpft verbarg Una ihr Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Im Reich eines verschlafenen, alten, Menschenfleisch fressenden Wassermannes lebend, mit Muscheln und Fröschen redend, vergessen von der Welt außerhalb der Wasseroberfläche – es war einfach zu viel. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und wäre eingeschlafen, in der geringen Hoffnung, doch noch aus einem Traum zu erwachen.

      Ohne es zu merken, sank sie tiefer auf den mit Algen bewachsenen Grund und schluchzte kurz auf.

      „Ich kann mir denken, dass das alles ziemlich viel ist für einen Neuanfang“, sagte Penina in ihrer bemutternden Art und schwamm zu ihr hinab. „Nicht ist am Anfang leicht. Aber du wirst dich an das alles hier schon noch gewöhnen. Du hast viel verloren, Liebes, doch dieser See kann dein neues Zuhause werden. Und unser Herr ist kein so schlechter Kerl, wie er dir noch erscheinen mag. Mit der Zeit wirst du ihn sicherlich etwas mögen.

      Sein Name ist übrigens Sharik.“

      Una ließ die Hände sinken und murmelte: „Das klingt wie ein Hundename.“

      „Der Meinung war ich auch mal“, hörte sie Lorin wieder lästern. Diesmal war es Arnold, der nach ihm schnappte.

      „Lass dich nicht hängen, Una“, ermunterte Penina sie sanft. „Komm. Lass uns zu Sharik gehen. Er kann dich zwar nicht wieder lebendig machen und dir dein altes Leben zurückgeben, aber er hat genug Kraft, um dir beizustehen.

      Er wird dir helfen.

      Und er wird diesen Eindringling fassen.“

      3

       Der Wassermann

      Mit langsamen Bewegungen folgte Una ihren drei Wegbereitern durch die grüne Unterwelt. Ab und an schwamm sie ein paar Züge, schließlich war sie ja im Wasser. Ansonsten blieb sie weitestgehend zurückhaltend und überließ den anderen die Führung. Sie hätte sowieso nicht gewusst, wo dieser Herr vom See sich aufhielt.

      Sharik.

      Klang slawisch. Als Kind hatte sie einen russischen Märchenfilm gesehen, indem es um eine traurige Nixe ging. Die Handlung war ihr aber entfallen …

      Wie er wohl war? Wie sollte sie ihm begegnen? Reichte er ihr die schuppige Hand, äh, Flosse? Grüßte er sie höflich, majestätisch? Oder würde er sie angreifen, feindlich verjagen aus seinem Gebiet? Sollte sie fliehen? Wohin hätte sie gehen sollen? Und zurückschlagen? Hatte sie die Kraft, sich einem jahrhundertealten Geist entgegenzustellen?

      In ihrem lahmen Zustand hätte sie nicht mal ihre Oma aufhalten können. Selbst ein Wegrennen war aussichtslos, vor einem Wesen, das halb Fisch war. Sie konnte es nur geschehen lassen, wie es geschehen würde. Dennoch hatte sie entschieden, im Falle eines Angriffs, mit aller Kraft zu kämpfen. Sie war bereits tot – was sollte ihr noch passieren?

      Jedoch waren das alles Fantasien. Una konnte jetzt überheblich denken, wie und was sie tun würde. Was wirklich wäre, stand auf einem anderen Blatt. Sie hatte keinen Plan von nichts. Nicht einmal die Größe des Sees hatte sie richtig eingeschätzt.

      Unter ihren schwebenden Füßen waberten die ausgedehnten Algenfelder. Ab und an nahm sie die Bewegungen einiger Fische und Krebstiere wahr. Auf schwarzen, von Zeit und Strömung abgerundeten Felsen tummelten sich Schnecken und Würmer, die sich wiederum im Hornblatt verbargen, kaum dass sie die Neugier des Mädchens bemerkten.

      Auch säumten verfallene Ruinen den Weg der Gruppe. Mehrere Grundmauern ragten aus dem Dickicht hervor und durch die