Daimon Legion

In die grüne Tiefe hinab


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wollte ich ihm verzeihen können. Eine böse … stand nicht zur Debatte.

       Oder war das eine Falle von Chantal? Die hatte mich gestern wütend angesehen. Wollte mir das Miststück etwa eins reinwürgen?

       Florian? , wisperte ich in den Wind.

       Die dünne Eisschicht auf dem See knisterte.

       Hey.

       Die Stimme klang mit einmal sehr nah.

       Als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert!

       Ich schreckte auf. Wirbelte herum. Niemand war zu sehen.

       Mein Atem ging rasch. Mein Herz bebte. Gehetzt blickte ich mich um, Rücken zum Wasser. Versuchte im Dunkeln zu sehen. Ein Gesicht zwischen den Bäumen zu erkennen. War das wirklich Florian? Warum wollte er mir solche Angst machen?

       Mir war kalt. Und ich war müde. Ich musste umkehren. Ich sollte dringend -

       Ein Knacken. Ein Glucksen. Im Wasser. Aber dort konnte er sich nicht verstecken! Es war viel zu kalt!

       Im Wasser war es zu kalt für -

       Komm zu mir.

       Jemand umfasste mich von hinten. Zog mich tief unter Eis und Wasser.

       Mit aller Kraft drängte ich die glitschigen Arme von mir fort. Der Griff löste sich.

       Ich wollte nach oben, Luft schnappen, raus, an Land!

       Eine starke Hand packte mich am Bein. Zog mich hinab in die Dunkelheit. Ließ mich nicht aufsteigen.

       Ich trat aus. Die Hand ließ los.

       Doch die Kälte nicht.

      2

       Erwachen im grünen See

      „…!“

      „…an. Wi…“

      „Sieh… … Wass…“

      „Das gibt’s nicht.“

      „Wieso noch eine?“

      „Die arme Kleine …“

      „Selber schuld.“

      „Ich tippe auf unerwiderte Liebe.“

      „Kommt häufig vor.“

      „Dabei ist sie so jung.“

      „Danach fragt keiner.“

      „Ist nicht mein Problem.“

      „Du Ignorant.“

      Una hörte die Stimmen sprechen. Erst undeutlich, dann klarer. Es waren drei verschiedene. Die einer Frau und zwei Männer, ein älterer, ein jüngerer. Sie konnte sie verstehen. Demnach konnte sie nicht tot sein. Tote können nicht hören. Tote können nicht denken.

      Gerettet, kam es ihr sofort hoffnungsvoll in den getrübten Sinn. Sie war gerettet worden vor dem Ertrinken. Sie war nicht gestorben. Jemand hatte sie aus dem See gefischt und in ein Krankenhaus gebracht, wo man sich um sie kümmerte. Sie hatte überlebt. War der Kälte entkommen. Sie lebte.

       Sind diese drei meine Ärzte?

      „Ah, sie kommt zu sich!“

      „Das ist ihr gutes Recht.“

      „Ist es nicht. Ihm wird das gar nicht passen. Sie sollte besser gehen.“

      „Wohin denn?“

      „Keine Ahnung. Woanders hin halt.“

      „Er muss sich doch an die Regeln von Mutter Natur halten. Sie ist jetzt nun mal hier.“

      „Trotzdem. Wir kennen ihn doch. Er wird niemanden neben sich akzeptieren.“

      „Stimmt, er teilt nicht.“

      „So, wie es aussieht, muss er das fürs Erste aber.“

      Was reden die da? Una verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Ärzte redeten anders.

      Schwer bekam sie ein Gefühl für ihren Körper. Er fühlte sich so steif an, fast wie fremd. Als wäre sie in einem Kokon eingesponnen, gleich einem Schmetterling kurz vor der fertigen Metamorphose, der nicht begreifen konnte, warum er keine Raupe mehr war und wozu Flügel gut sein sollten. Es war ein seltsam verlorenes, hilfloses Gefühl. Doch immerhin ein Gefühl. Denn Gefühle sagten, dass sie tatsächlich lebte.

      Noch war sie müde vom langen Schlaf. Ihre Augen wollten die Lider nicht heben.

      „Was für ein hübsches junges Ding. Genau das richtige Alter.“

      „Wovon sprichst du?“

      „Na, meint ihr nicht, dass sie ihm vielleicht gefallen wird?“

      „Ha! Wenn sich das derart entwickelt, lass ich mich freiwillig fressen!“

      „Überschätze ihn nicht. Du bist eine Traumtänzerin.“

      „Ich denke, das könnte passen.“

      „Nie und nimmer.“

       Sie reden von mir. Und wem noch?

      Langsam streckte Una ihre Glieder. Zäh kämpfte sie gegen die Müdigkeit an. Sie sog Luft in ihre Lungen – doch hereinströmte nur etwas Kaltes, Sumpfiges … Sie atmete rasch aus, würgte es heraus, um einen neuen Atemzug zu tun. Aber wieder atmete sie bloß brackig schmeckendes Wasser.

      „Angewohnheit von oben“, feixte jemand hämisch.

      „Verliert sich mit der Zeit.“

      Schlagartig öffnete sie ihre Augen. Hier war kein weißes Krankenzimmer. Sie lag in keinem weichen Bett. Nichts schien ihr vertraut. Nur Dunkelheit.

      Nein, Düsterkeit. Trübe, grünschwarze Düsterkeit.

      Sie blickte hinab auf einen schlammigen, nach Torf riechenden schwarzen Boden, auf unzählige, mit glitschigem Moos bewachsene Steine. Verlaufene Spuren von hellem Sand. Feine Gräser, die wie Haare im Wind wogen. Jedoch spürte sie keinen Wind auf ihrer Haut. Hörte ihn nicht. Alles schien komplett lautlos zu sein.

      Sie selbst lag nicht. Stand nicht. Schwebte schwerelos über dem fremdartigen Boden.

      Schwebte im Wasser. Unter Wasser.

      Una bekam Angst. Furchtbare Angst. So groß, dass ihr Herz laut in der Brust schlagen, sich gar zerreißen musste. Doch in ihr war es still. Ihr Herz schlug nicht. Es stand still.

      Ihr Körper drehte sich im Wasser. Sie sah grünbraune Algen wuchern. Eine Wiese aus treibender Wasserpest, einen ganzen Wasserpflanzenwald! Die Blätter schwangen in einer unterirdischen Strömung. Manches Grün war dicht wie Gebüsch, anderes weitverzweigt zu Netzen. Undurchdringliche Mauern aus braunen Laichkräutern, abgestorbenen Stielen und schwarzen Wurzeln von Seerosen.

      Kleine Schwärme von schillernden Fischen flogen wie Vögel über die Vegetation hinweg. Überall schwammen winzige wie große Krebstierchen und Insektenlarven umher. Eine Fülle von Leben. Unterwasserleben.

      Obwohl ihr Herz weiterhin schmerzte vor Panik, hörte sie keinen Ton. Immer noch war alles still. Eine triste, kalte, unwirkliche Welt ohne Geräusche.

      Flehend hob Una ihre Hände vor das Gesicht. Ihre Bewegungen waren durch das Wasser verzerrt langsam wie die eines Astronauten im Weltall. Bleich waren ihre Finger, die Nägel blau gefroren. Blutleer wie die Hände eines Toten.