Daimon Legion

In die grüne Tiefe hinab


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die einst hier gelebt hatten, in Tiere verwandelt worden. Zig gefangene Seelen, die ihrem eigensinnigen Schlächter selbst nach dem Tod noch gnadenlos ausgeliefert waren. Una wollte nicht verstehen, weshalb sich ein intelligentes Wesen wie der freie Mensch dermaßen aufgeben konnte.

      „Zu Beginn waren wir alle traurig und wütend auf den Herrn“, gestand ihr Penina ehrlich, „wie du. Er hatte uns aus dem Leben gerissen, klar! Wir mussten auch Freunde und Familie zurücklassen und dabei zusehen, wie unsere Körper von ihm zerrissen und verschlungen wurden …“

      „Das war echt kein Anblick, Unalein“, lockerte Lorin das Thema vergeblich auf.

      „Das ist widerlich!“, schüttelte sich das Mädchen.

      Die Karausche seufzte. „Letztlich ist es aber so, dass wir uns damit abgefunden haben.

      Was sollten wir auch anderes tun? Unsere Menschenkörper waren nun mal nur Fleisch und als Fische und Frösche können wir schlecht unsere Verwandten wiedersehen. Die würden unsere Worte gar nicht verstehen.“

      „Abgesehen davon sind viele von denen selber schon tot“, gab Arnold ihr zu verstehen. „Nimm mich zum Beispiel.

      Mich hat der Herr vor gut hundertzwanzig Jahren ertränkt, als ich zu nah am Ufer fischte. Damals war ich ein vierfacher Familienvater, aber heute sind meine Frau und Kinder längst verstorben. Von irgendwelchen Enkeln oder Urenkeln weiß ich nichts und die wissen sicher auch nichts von mir. Maximal bin ich noch als Name im Ahnenbuch verzeichnet.

      Mein Leben außerhalb des Wassers ist vorbei, aber ich lebe jetzt in diesem wunderbaren See, habe hier neue Freunde gefunden und mich eingelebt. Ich bin als Geist so lange lebendig wie der See selbst, und wenn alles gut geht, lebt jeder von uns noch hundert Jahre weiter. Oder mehr.“

      „Als Muschel“, spottete Una enttäuscht. „Ist das die Erfüllung deines Lebens? Hättest du nicht lieber deine Enkel aufwachsen sehen wollen? Mit deiner Frau alt werden?“

      „Versteh mich nicht falsch, ich liebte meine Frau“, gestand ihr Arnold aufrichtig. „Und gern wäre ich mit ihr alt geworden. Aber es sollte nicht sein.“

      „So sparst du dir das Altenheim und Enkel, die dich bloß besuchen kommen, um Knete abzustauben“, tätschelte Lorin ihm die Außenschale.

      „Aber er hat euch umgebracht!“, versuchte es Una nochmals, obwohl ihr langsam die Argumente fehlten. „Euch alles genommen und von den Menschen weggerissen.“

      Des Frosches Miene wurde ernst und er lachte bitter auf. „Pah, Menschen! Du bewertest das Menschsein noch ganz schön über. Daran ist echt nichts Ehrenwertes, ganz im Gegenteil.

      Ich bin Sharik gar nicht sauer, weil er mich von den Menschen weggeholt hat. Ich bin als Tier zehnmal glücklicher.

      Wer ich war? Vor dreißig Jahren einer dieser Versager am Rande der Gesellschaft. Einer, der besoffen seinen Frust an Schwächeren ausließ. Als Mensch konnte ich mir einbilden, über allen Dingen zu stehen und die Krone der Schöpfung zu sein. Aber eigentlich vernichtete ich nur alles, was mich umgab. Ich warf meine Zigaretten brennend in die Wildbahn, habe Zweige aus Spaß gebrochen, Pflanzen herausgerissen, Tiere mit Steinen beworfen, Autoreifen abgefackelt – weil ich mir keine Gedanken machte, was mein Handeln für Schaden anrichten könnte.

      Heute sehe ich meine Fehler ein. Ohne Sharik hätte ich meine eigene Dummheit nie erkannt. Ich schäme mich für das besitzergreifende, selbstsüchtige Ich, das ich als Mensch war.“

      Una konnte ihm nicht wirklich folgen. Gut, manche Menschen waren nun nicht gerade mit Umsicht gesegnet, aber das hieß nicht, dass alle schlecht waren. Ansonsten wäre die Amphibie Lorin nicht besser als die überhebliche Menschheit.

      Oder verstand sie da etwas falsch?

      „Du hast dich gebessert, weil du als Frosch keinen Schnaps mehr trinken kannst“, zog Penina Lorin frech auf. „Betrunken bist du damals in den See gesprungen und der Herr brauchte dich nur noch unten zu halten, bis die Luft aus war.“

      „Ähnlich wie bei dir, Miss Pipi“, gab der Frosch es ihr zurück und beide streckten ihre Zungen heraus.

      „Na toll“, schnaufte Una missmutig, „schön, wenn ihr euer Ableben so locker seht. Ich würde Sharik nicht in einer Millionen Jahren verzeihen, wenn er es denn gewesen wäre. Dieser andere hat also keine besseren Chancen.

      Umso schlimmer finde ich es ja, die Zeit bis zum Sommer mit Warten zu vertrödeln. Das ist noch lange hin und der Platz hier drinnen ist zu begrenzt, als dass ich ihm ewig aus dem Weg gehen könnte.“

      „Er hat dir doch erklärt, wieso“, sagte Arnold.

      „Und bis dahin ist der Typ über alle Berge – oder Flüsse!“, echauffierte sie sich.

      „Bestimmt nicht. Er muss in sein Heimatgewässer zurückkehren, sonst stirbt der Wassergeist. Und das Gewässer ebenso“, verkündete Penina. „Er kann gar nicht flüchten. Du könntest zwar sagen, dass wir Gefangene sind, aber auch die Naturgeister sind letztlich nur an einen Ort gebunden.

      Gerade ein Seewassergeist ist wenig flexibel. Ihm gehört nur der Raum seines Wassers, der See, der Weiher, der Tümpel, das Moor. Er kann das Gebiet nur wechseln, wenn er das Reich eines verstorbenen Geistes übernimmt – quasi als Ersatz dienen, bevor das Biotop eingeht. Und selbst dann ist nicht hundertprozentig gewährleistet, ob die Chemie zwischen Geist und Wasser stimmt.

      Flussgeister sind ebenso von ihrem Domizil abhängig, aber ein Fluss kann weit fließen. Von der Quelle bis zur Mündung ins Meer können sie reisen und ein Fluss bietet zudem mehreren Geistern ein Zuhause. Sie sind keine verschrobenen Einzelgänger wie die Herren von einem See.

      Und die Meergeister leben – wie der Name sagt – im Meer, in Gruppen oder Einzeln. Wegen dem hohen Salzgehalt meiden sie die Flüsse, bis auf wenige Ausnahmen, welche Brackwasser betreten können.

      Für alle gilt dasselbe: nie ihr Heim im Stich lassen.“

      „Du meinst also, ein Geist kann sterben, wenn er es doch tut?“, war das Mädchen verwundert.

      „Selbstverständlich. Alle Existenz hat irgendwann ein Ende, es gibt keine vollkommene Unsterblichkeit.“

      „Das heißt“, überlegte Una ernsthaft, „ein Wassermann stirbt … auch wenn er ungewollt irgendwie von seinem Wasser ferngehalten wird … Das wäre das Ende des Sees. Was würde mit euch passieren?“

      Die drei blickten sich traurig an.

      „Wenn sich nicht bald darauf ein neuer Herr oder eine Herrin finden würde“, wagte Arnold eine Theorie, „und das Gewässer verloren geht, lägen wir alle auf dem Trockenen. Wir würden wohl erneut sterben. Wer weiß, wohin unsere Seelen dann gehen?“

      Schweigen stand zwischen ihnen. Wäre es unter Wasser nicht so still, hätte man den Wind in den Baumkronen rauschen hören können.

      „Ihr seid wirklich zufrieden mit eurem Leben hier?“, fragte Una nach.

      „Natürlich!“, antworteten ihre neuen Freunde überzeugt.

      „Und ihr seid überhaupt nicht nachtragend?“

      „Nein.“

      Seufzend musste sie dies akzeptieren.

      Die Wasseroberfläche wellte sich in einer leichten Brise über Unas Kopf hinweg. Wenn sie die Hand ausgestreckt hätte, wäre sie durchgebrochen, wieder an Land und Luft, unter den Lebenden. Jetzt musste es gen Mittag sein. Die Zeit verstrich unaufhörlich. Ihre Schulklasse war bestimmt schon auf dem Nachhauseweg …

      Konnte sie es wagen, das Wasser zu verlassen, wenn auch nur teilweise? Oder würde ihr die Haut abfaulen – so als wandelnde Leiche?

      Bevor sie es versuchen konnte, hielt sie Lorins Stöhnen von ab.

      „Na toll. Hier sieht’s ja aus wie bei Karl-Heinz!“

      Was auch immer er damit meinte, Una musste zugeben, dass sie noch nie so viel Abfall auf einmal gesehen hatte.