Günther Dümler

Mords-Schuld


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dreimal so viel wie in der Großstadt Nürnberg.

      Der Wirt des so genannten Hosererhauses musste bereits sehr früh aufgeben. Seinen Hauptverdienst hatte er zuvor bei den vielen Vereinsveranstaltungen erzielt, die über mehrere Monate komplett verboten waren. Andere, in den Industriebetrieben der nahen Stadt Beschäftige, verloren teilweise ihre Jobs, weil es ihren jeweiligen Arbeitgebern nicht besser ergangen war oder sie waren auf Kurzarbeit gesetzt worden und mussten teils erhebliche Einkommensverluste hinnehmen.

      Der Wirt des Goldenen Adlers hatte sich mit Mahlzeiten zum Abholen einigermaßen über Wasser gehalten, aber lange wäre es auch bei ihm nicht mehr gut gegangen. To go war mittlerweile auch bei denen ein gängiger Begriff geworden, die mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß standen.

      „Mir denner ner bloß meine Bedienunger und di Küchnhilfn Leid, haubdsächlich dee wo bloß geringfügich angschdelld warn. Dee homm etz monadelang nix verdiend. Und dess sinn alles anne, bei dene wos derhamm sowieso immer gnabb zouganger is“, erklärte Karl Bernreuther, der Adlerwirt, als er Peter zufällig auf der Straße traf. „Hoffndli gäihds bald widder aufwärds, etz, wo die Leit weingsdns in begrenzder Anzahl und underm freier Himml widder kummer derfn. Abber nach dem ganzn Drama werd hald äs Geld aa nimmer so logger sitzn, färchd i“.

      Bei der Metzgerei Bräunlein hingegen gab es kaum Probleme. Als systemrelevanter Betrieb durften sie die ganze Zeit über geöffnet bleiben, wenngleich der Umsatz wegen der knappen Kassen vieler Kunden auch hier spürbar zurück gegangen war. Schlechter sah es beim Friseursalon von Lothar Schwarm und dem angeschlossenen Kosmetikstudio seiner Frau Maria aus. Beide mussten über mehrere Monate geschlossen bleiben und hatten keinerlei Einnahmen. Denn heimliche, weil streng verbotene Hausbesuche, kamen für die Beiden nicht in Frage. Sie hielten sich getreu an die Regeln. Zum Glück hatten sie keine Miete zu bezahlen und dadurch einen großen Vorteil gegenüber vielen Berufskollegen andernorts. Die Rücklagen schmolzen jedoch dahin wie Schnee in der warmen Frühlingssonne.

      Die Kleinleins hatten es in finanzieller Hinsicht besser. Als Rentner hatte Peter keinerlei Einbußen zu beklagen, eine Gnade der frühen Geburt, wie er es scherzhaft und in Umkehrung eines Zitats von Helmut Kohl formulierte. Aber unter den fehlenden sozialen Kontakten hatten er und seine Marga wie alle anderen gelitten. Ihr jüngstes Enkelkind war mittlerweile schon fast 16 Monate alt und sie hatten es gerade einmal im vergangen Sommer besuchen können, in Odalfing bei München, wo die Tochter Heidi mit ihrem Mann und dem Basti, dem anderen Enkel der Kleinleins, wohnte.

      Wenigstens hatten sie inzwischen gelernt, per Whatsapp-Videoaanruf miteinander zu kommunizieren. Das war zwar kein vollwertiger Ersatz für einen persönlichen Kontakt, eine Umarmung oder eine gemeinsame Unternehmung. Aber immerhin, besser als zu Peters Kinderzeit war es allemal, wo höchstens drei bis vier Mal im Jahr ein Brief von der Tante Adelheid kam, worauf die Mutter immer stundenlang am Küchentisch saß und angestrengt sinnierte, was man denn am besten zurückschreiben könnte. Am Ende lief es immer auf das Gleiche hinaus. „Uns geht es gut, was wir auch von euch hoffen“. Mit dieser Standardfloskel schlossen diese Briefe stets. Eine völlig vergessene Art der Kommunikation in diesen modernen Zeiten, doch die Botschaft, die es enthielt, war heute so aktuell wie damals.

      Adele Heller nahm dank ihres motorisierten Fahrrads zügig den leichten Anstieg am Ende des Emmeran-Thalhammer-Wegs der von so vielen Schlaglöchern gekennzeichnet war, dass es ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedurfte, einen Sturz zu vermeiden. Emmeran-Thalhammer-Weg hieß er nach einem früheren Gemeinderat, der sich beim Umbau der Gemeindeverwaltung große Verdienste erworben hatte. Die Röthenbacher nannten ihn aufgrund seines bedauerlichen Zustands gemeinhin respektlos, aber überaus zutreffend, Emmentalerweg. Die ungepflegte löchrige Teerdecke glich tatsächlich mehr einem Schweizer Käse als einem Fahrweg und sie sah so renovierungsbedürftig aus wie das in die Jahre gekommenen Einfamilienhäuschen der Familie Hartmann, deren Bewohnerin sie den täglichen Besuch abstattete.

      Frau Heller war diplomierte Krankenschwester und kümmerte sich hauptamtlich um die Kranken und pflegebedürftigen Einwohner der Gemeinde, sofern deren körperlicher und geistiger Gesundheitsstatus ein Wohnen in den eigenen vier Wänden noch zuließ. Sie war bei Allen äußerst beliebt, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer ein mildes, zufriedenes Lächeln im Gesicht trug. Egal, ob die Umstände danach waren oder nicht. Es war Teil ihrer Berufung, wie sie selber auf Befragen antworten würde und das aus vollster Überzeugung. „Meinen Patienten geht es meist schlecht genug, die brauchen nicht noch ein griesgrämiges Gesicht, das ihnen die Laune verdirbt, sondern freundliche Zuwendung.“ Wenn sie kam, ging für viele ein Licht auf.

      Marion Hartmann war zwar noch in den so genannten besten Jahren, aber das Schicksal hatte ihr bereits übel mitgespielt und sie mit nicht einmal 50 Jahren zu einem Leben mit einer dauerhaften Gehbehinderung verurteilt. Sie brauchte zwei Krücken, um sich wenigstens notdürftig vorwärtsbewegen zu können und ohne starke Schmerzmittel ging es gar nicht. Ausgerechnet sie musste das Pech haben, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Ein Auto hatte sie mit überhöhter Geschwindigkeit erfasst und über mehrere Meter gegen einen Lichtmast geschleudert. Hätte sie nur nicht diese vermaledeite Abkürzung durch das Wäldchen genommen. Dann hätte sie auch nicht die Kreisstraße an dieser unübersichtlichen Stelle überqueren müssen. Dass der betrunkene Fahrer ermittelt und hart für seine Verfehlung bestraft wurde, verschaffte ihr wenig Genugtuung. Die Folgen der tragischen Begegnung hatte sie ganz allein zu tragen. Sie würde nie wieder richtig gehen können, schon gar nicht schmerzfrei, ganz zu schweigen von den langen Waldläufen, bei denen die ehemalige passionierte Sportlerin früher die nötige Entspannung nach ihrer anstrengenden Tätigkeit am Montageband eines Elektronikherstellers fand. Das Schicksal hatte sie wahrlich hart getroffen.

      Die Schwester hatte einen Schlüssel für die Haustür und öffnete sich daher selbst.

      „Hallo mei Guude, wie geht‘s uns denn heut?“, rief sie bereits vom Flur aus in das kleine Wohnzimmer, wo sie die Patientin, in ihrem kunstlederbezogenen Fernsehsessel sitzend, bereits sehnsüchtig erwarten würde. Adele Heller war vorsichtig geworden, seit sie vor Jahren eine Patientin, eine relativ rüstige alte Dame, mit einem Kopfkissen erstickt in ihrem Bett vorgefunden hatte. Der Schock hatte ihr seinerzeit gewaltig zugesetzt. Die weit aufgerissenen Augen des Mordopfers erschienen ihr noch heute oft genug in ihren Träumen. So etwas wollte sie nie mehr erleben. Daher hatte sie sich seither angewöhnt, sich erst einmal bemerkbar zu machen, bevor sie in den Wohnbereich kam. Damit hoffte sie vermeiden zu können, dass sie wie damals, völlig unvorbereitet in eine solche Schrecksituation geriet. Wenn sie jedoch auf ihr Rufen keine Antwort erhielt, dann betrat sie die Wohnung jedes Mal mit klopfendem Herzen und angespannter Erwartung.

      Aber seitdem war nichts Vergleichbares mehr geschehen und auch heute hörte sie sogleich das vertraute Geräusch, das die Krücken der Patientin beim Aufsetzen auf den einfachen Teppich im Wohnzimmer verursachten.

      „Muss hald gäih, bleibd mer scho nix anderschds übrich“, tönte es, ebenfalls vertrauterweise hinterher. Das war wohl eher eine Floskel als wahre Überzeugung, denn zu den Geduldigsten hatte die Frau Hartmann noch nie gehört. Sie war schon eher eine von denen, die mehr mit dem Schicksal haderten, als ihnen gut tat und das auch noch ein gutes Jahr nach ihrem tragischen Unfall.

      „Naja“, dachte die Schwester, „wenns ihr hilfd, dann solls hald vo mir aus brummer“ und sah keinen Grund ihre freundliche Miene dem ungnädigen Empfang anzupassen. Auch darin war sie höchst professionell. Wenn sie sich auch vornahm, nie so undankbar zu werden, wenn es bei ihr einmal so weit sein sollte, so konnte sie doch verstehen, warum die Frau unzufrieden und von Selbstmitleid geprägt war. Schließlich hatte sie nicht nur mit den Folgen ihres Unfalls zu kämpfen, auch mit der Wahl ihres Ehemanns hatte sie nicht gerade das große Los gezogen.

      Schwester Adele kannte den Mann kaum. Entweder ging er ihr absichtlich aus dem Weg oder er war aus anderen Gründen so gut wie nie zuhause. Wenngleich er noch erwerbstätig war, so hätte sie ihn doch wenigstens an den arbeitsfreien Tagen einmal antreffen müssen oder wenn sie besonders viel zu tun hatte und daher erst gegen Abend vorbeikommen konnte. Aber geben musste es ihn schon noch, denn die benötigten Medikamente waren immer vollzählig vorhanden und auch der Kühlschrank war ausnehmend