Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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überlassen. Hastig raffte sie ihre Röcke und eilte den Gang hinunter.

      ***

      Feodor saß vor dem Feuer und starrte in die Glut. Kein Gedanke passte mehr in seinen Kopf, er fühlte sich müde, ausgebrannt und einsam.

      Einsam! Obwohl er den ganzen Tag seine Kinder um sich hatte und von überall freundlichen Zuspruch erhielt. Doch nach wie vor wusste niemand, wo sich Phine befand, und nach wie vor war Lume’tai nicht bereit, sich von jemand anderem halten und trösten zu lassen als von ihm oder einem seiner Söhne. Sie hielt ihn gefangen hier an diesem fremden Ort. Sie verhinderte, dass er sich mit seinen immer noch wunden Knochen auf die Suche nach seiner Frau machen konnte.

      Manchmal war er zornig auf Lume’tai. Sie war hier zu Hause unter ihresgleichen, aber alles, was sie wollte, war die Nähe derer, die ihr vertraut waren. Von dem zufriedenen Kind, das er kannte, war nichts mehr da. Es war genauso verschwunden wie seine Zuversicht, genauso verschwunden wie Phine …

      Oft hielt er die Kleine im Arm und erklärte ihr, was unerklärlich war. Er bat sie, ihn freizugeben, damit er Phine suchen konnte, aber Lume’tai sah ihn mit ihren großen, blauen Kinderaugen an und kuschelte dann ihr Köpfchen trostsuchend an seine Brust.

      Die Elben näherten sich nur scheu und ehrerbietend, wenn er so mit ihr dasaß. Offensichtlich hatte sie Großes geleistet. Aber es überstieg Feodors Auffassungsgabe, zu verstehen, von was die Rede war, wenn sie sagten, sie hätte den Lichtkreis geschlossen und Machtworte gespiegelt. Möglicherweise würde Ala’na es ihm erklären. Aber sie war noch so geschwächt, dass sie nur für ihren engsten Familienkreis zu sprechen war. Manchmal sah Feodor Rond’taro auf den Pfaden von Pal’dor.

      Obwohl er immer freundlich war und sich stets nach seinem Befinden erkundigte, wirkte er irgendwie abwesend.

      Solange Feodor noch in Iri’tes Obhut gelegen war, hatte er ab und an über Ala’nas Gesundheitszustand Auskunft erhalten. Nicht viel und nur das, was ihn unmittelbar betraf, aber es vermittelte ihm zumindest einen kleinen Eindruck davon, wie sehr sich die Elbin angestrengt haben musste, um Josephine zu finden. Es zeigte ihm aber auch, was seine Frau und Lume’tai geleistet hatten, um ihr den Weg zurück in ihren Körper zu ermöglichen.

      Feodor schüttelte den Kopf. Das alles war so fern von seinem Leben, es war so unglaublich und unverständlich wie das Buch, das Josua neulich in der Hand hatte, mit den Bildern unbekannter Tiere und voll mit Runen, die er nicht entziffern konnte.

      Er fühlte sich ausgesetzt in dieser fremden Welt, deren Regeln er nicht kannte.

      Immerhin blühten seine Söhne langsam auf. Josua war der Erste gewesen, der sich neugierig in diese neue Welt stürzte. Jaris und Jaden hatten die Vorteile auch schnell herausgefunden und ließen sich wie streunende Katzen an allen möglichen Stellen verwöhnen. Schließlich waren ihnen die beiden Großen gefolgt, wobei sich Johann am schwersten tat. Aber auch ihn brachte seine kindliche Neugier weiter, als Feodor zu gehen vermochte.

      Nach seiner ersten Erleichterung, alle in Sicherheit zu wissen, wurde ihm immer beklemmender bewusst, dass er an einem Ort war, an den er nicht gehörte. Zwar war er keine vier Stunden Fußmarsch von seiner Heimatstadt entfernt, aber er hätte genauso gut auf einem anderen Stern sein können. Und das alles ohne Phine.

      Zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Feodor, worauf er sich eingelassen hatte.

      Als die alte Helena ihnen damals vor fast siebzehn Jahren eröffnete, dass ihr Vater ein Elbe aus Mu … Ma … – der Name dieser Elbenstadt fiel ihm nicht mehr ein – war, hatte er das stillschweigend aufgenommen und zu seiner Liebe hinzugezählt wie ein Muttermal an einer geheimnisvollen Stelle.

      Er spürte heute noch einen Hauch von dem schlechten Gewissen, das er verspürt hatte, als er Josephine mit sich nahm, obwohl sie nicht seine angetraute Frau gewesen war. Die Notwendigkeit, dies zu tun, stand damals vor dem Anstand, und da seine Absichten ehrenhaft waren, hatte er sie und das Kind ihrer Schwester, keusch – und darauf legte er großen Wert – bis ins Kloster Wilhelmus gebracht, wo der Abt erst die Trauung und dann die Weihe des Kindes übernommen hatte.

      Philip war ihm so schnell ans Herz gewachsen wie später jedes seiner leiblichen Kinder, und manchmal vergaß Feodor, dass dieses Kind nicht sein eigen Fleisch und Blut war. Wo war Philip? Wie ging es ihm? Mit Phine war auch der lose Kontakt zu seinem Ältesten abgerissen. Irgendwie ahnte sie meistens, ob es ihm gut oder schlecht ging und sie wusste, ob er lebte. Erst seit Philip nicht mehr da war, spürte Feodor den Druck der Verantwortung, die er damals leichtherzig übernommen hatte und die ihn nie belastet hatte, solange der Junge in seinem Haus lebte, wuchs und gedieh und sich zusehends zu einem verantwortungsbewussten Menschen entwickelte. Als Philip das Erwachsenenalter erreichte, hatte Feodor Phine einmal gefragt, ob es nicht an der Zeit wäre, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber Phine war der Meinung gewesen, dass es besser wäre, noch ein Jahr zu warten und ihn solange in dem Glauben zu lassen, dass er das Mannesalter noch nicht erreicht hatte. Doch der Tag der Aussprache war nie gekommen, und es reute Feodor mehr als alles andere, dass ein Fremder Philip die Wahrheit seiner Herkunft erklären würde.

      Traurig dachte er daran, dass nichts so gekommen war, wie es hätte kommen sollen. Die Zufriedenheit, die ihm früher innewohnte, wenn er den Jungen ansah, war durch Zweifel und Ängste erstickt worden. In letzter Zeit dachte er oft daran, dass Philip ein Sohn von Königen war. Manchmal dachte er es mit Stolz, doch meistens mit Kummer und Schmerz. Die Mitglieder des geheimen Schlüssels hatten schon Philips Vater auf den Thron vorbereitet und Feodor zweifelte nicht, dass sie es auch mit Philip versuchen würden. Das Land brauchte einen neuen König! Aber warum ausgerechnet seinen Sohn?

      Lume’tai rekelte sich, schlug die Augen auf, und als sie ihn nicht sofort bemerkte, begann sie zu schreien.

      »Ich lass dich nicht allein, kleiner Engel«, flüsterte Feodor und hob sie sacht aus ihrem weißen Bettchen. Er setzte sie auf seinen Schoß und tröstete sie, bis sie sich beruhigt hatte und ihn aus den kleinen Seen, die ihre Augen waren, ernst ansah.

      »Phine hat gesagt, du bist unser kleines Mädchen. Am Anfang und am Ende halte ich ein Kind in den Armen, von dem ich weiß, dass es nicht meins ist, aber mein Herz ist blind, es erkennt keinen Unterschied zwischen dir und meinen Söhnen.« Er seufzte. Er wusste, dass er nicht an Phine denken durfte, solange Lume’tai wach war, darum stand er auf und ging langsam unter den Bäumen spazieren. Immer noch schmerzten seine Glieder und er fühlte sich wie ein alter Mann.

      ***

      Vor der nächsten Ecke blieb Elfrieda wie angewurzelt stehen. Die Luft war zum Schneiden dick. Sie flimmerte und knisterte vor Spannung. Elfrieda konnte nichts Genaues erkennen. Der neue Gang war beinahe noch düsterer als der, in dem sie stand. Sie lauschte. Selbst wenn es stimmte, dass Menschen gegen die Macht eines Zauberers gefeit waren, so war er immer noch ein Mann und ihr körperlich überlegen. Möglicherweise war er bewaffnet. Außerdem galt sein Wort mehr als ihres. Sie konnte nur verlieren. Trotzdem war es zu spät, um umzukehren. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Funken sprühten und in ihrem verglimmenden Licht stand eine verhüllte Gestalt. Elfrieda spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen sträubten und ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Die Gestalt stand genau an der Stelle, an der die Zelle der Elbin sein musste. Sie kam zu spät.

      Zitternd lehnte sie sich an die staubige Wand und schloss verzweifelt die Augen. Die schlurfenden Schritte hörte sie erst, als sie schon ganz nah waren. Erschrocken stieß sie sich von der Wand ab und huschte den Gang zurück. Wo war die letzte Nische gewesen? Ihr Herz jagte wild und drohte, ihr aus der Brust zu springen. Ihre Augen suchten die kahlen Wände nach einem Versteck ab und in ihren Ohren dröhnten die nahenden Schritte wie Trommelschläge. Bald würde er um die Ecke biegen und sie sehen. Sie fühlte sich wie eine Maus, die auf freiem Feld ein Versteck vor dem wachsamen Auge der Eule sucht. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass er sie noch nicht entdeckt hatte, doch da verfingen sich ihre Füße in einem der Unterröcke. Sie stolperte, konnte jedoch gerade noch verhindern, der Länge nach hinzufallen, indem sie sich an dem Riegel einer Zellentür festhielt. Fast lautlos glitt er zurück. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Stöhnen. Egal was hinter dieser Tür war, es konnte nicht schlimmer sein, als das, was jeden Moment um die