Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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Levian die Stirn zu bieten.

      Wer war Peredurs Erbe? Ein unreifer Junge ohne Einfluss – ohne Familie. Was konnte er schon vollbringen, außer, all die, die gehofft hatten, zu enttäuschen.

      Philip hatte hier auf diesem Berg nicht nur seine Familie verloren, sondern auch seine Freunde. Sie brauchten einen starken König. Aber das war er nicht, und darum war es besser, wenn sie niemals erfuhren, was er hier auf diesem Berg erfahren hatte. Nie wieder konnte er ihnen unter die Augen treten. Niemals von diesem Berg hinabsteigen. Es gab dort unten keinen Platz mehr für ihn.

      Und Arina … So schnell es ging, schob er den Gedanken beiseite, aber er konnte nicht verhindern, dass der Schmerz sich noch tiefer in sein Herz bohrte. Frendan’nos Nähe schenkte ihm die Geborgenheit einer warmen Stube in einer stürmischen Winternacht.

      »Bring mich weg von hier«, bat Philip ihn. »Bring mich irgendwo hin, wo mich niemand findet.«

      »Du kannst dich vor deiner Verantwortung nicht verstecken. Du bist der letzte Erbe der Kronthaler Könige«, sagte Leron’das bestimmt.

      »Ich bin niemand.« Philip stand auf.

      Geschmeidig wie eine Katze stellte sich ihm Leron’das in den Weg. »Du kannst jetzt nicht gehen! Dein Vater starb, bevor er seiner Bestimmung folgen konnte. Deine Mutter trug dich, die letzte Hoffnung …«

      »Der, der mein Vater war, ist Schmied und meine … Mutter trägt viele Hoffnungen, nicht zuletzt Lume’tai, die eure Hoffnung ist. Ich bin ein einfacher Junge aus Waldoria, ich bin kein König!« Er wandte sich an Frendan’no. »Zeig mir den Hang, an dem meine Urgroßmutter stand.« Dann ließ er Leron’das stehen, um seine Sachen zusammenzusuchen. Als er wieder heraustrat, ging er zielstrebig zu den Koppeln. Dort warteten der Esel Lu und sein Pferd Erós, die ihm trotz aller Widrigkeiten dieser Zeit als Gefährten erhalten geblieben waren.

      Leron’das stand ebenfalls dort und streichelte den Esel zwischen den Ohren. Er sah nicht auf, obwohl er Philips Kommen bemerkt haben musste.

      »Erinnerst du dich noch an den Tag am Bach? Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich mit Walter und dir über die Nachkommen von Peredur sprach? Damals war ich fest davon überzeugt, dass es viel mehr sein müssten, denn in Pal’dor war bekannt, dass Peredur drei Kinder hatte. Die Anzahl seiner Enkel und Urenkel hätte folglich erheblich sein müssen. Als ich jedoch nach langem Suchen endlich die Stammbäume in den Händen hielt, stellte ich fest, dass die Norne Varsa’ra unter den Menschen wütet wie eine Sichel im Kornfeld. Du und Walter, ihr wolltet dafür sorgen, dass ein Heer für den Königserben bereitsteht.«

      »Das haben wir mehr oder weniger getan. Wir haben Vinzenz, Hilmar und Agnus davon erzählt und sie haben sich um alles Weitere gekümmert.«

      »Aber wenn du dich deinen Aufgaben nicht stellst, werden sie es umsonst getan haben. Sie brauchen einen König. Sie brauchen dich. Sie vertrauen dir.«

      »Wüssten sie, wer der Nachkomme Peredurs ist, würden sie es nicht tun. Ich kann das nicht. Ich habe keine Ahnung davon, was getan werden muss. Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist. Niemand würde mir folgen, niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, würde mehr in mir sehen, als einen zu groß geratenen Tollpatsch.« Er streichelte seinem Pferd über die Nüstern. »Es ist noch kein Jahr her, da lag ich sterbend in einem Wald. Es ist noch kein Jahr her, da haben die Mächte dieser Welt sich in den Kopf gesetzt, mir Stück für Stück mein Leben zu rauben. Jetzt ist es ihnen gelungen. Ich habe kein Leben mehr. Auf meiner Vergangenheit lasten so viele Lügen. Darauf lässt sich keine Zukunft aufbauen.«

      »Das stimmt alles nicht. Aber wenn ich dir das hier und heute erkläre, wirst du mir nicht glauben. Geh mit Frendan’no hinauf in die Berge. Niste dich ein zwischen Steinen und ewigem Eis. Finde deine Wurzeln, die sowohl dort oben als auch hier unten liegen und schau nach Norden, bis du die Zinnen von Waldoria entdeckst. Aber bedenke, dort oben steht die Zeit still, während hier unten deine Freunde einen verzweifelten und derzeit hoffnungslosen Kampf führen.« Leron’das ließ den Kopf hängen. »Es gibt zwei Menschen, die wissen, wer du bist«, murmelte er. »Sie lieben dich und sie werden es dir nicht verübeln, wenn du dich nicht zeigst, aber sie wissen es und werden bis zuletzt hoffen.«

      Philip wandte sich ab. Leron’das΄ Worte trafen ihn, aber er wusste nicht mehr, was er denken, was er fühlen sollte. Hilflos suchte er nach Worten, die es erklären konnten.

      »Seit ich mein Elternhaus verlassen habe, weiß ich, dass es Geheimnisse gibt, von denen sie mir nichts erzählt haben. Nach und nach habe ich in schmerzlichen Erfahrungen selbst einiges herausgefunden, und es erschien mir wichtiger, denn je, nach Corona zu kommen.« Er drehte sich um und sah den Elben an. »Es ist so schrecklich! Ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen. All die furchtbaren Dinge, die geschehen sind: Theophils Tod, meine Flucht durch den Wald, die Stimme des Zauberers in meinem Kopf, sie bekommen ein ganz anderes Gewicht. Aber auch das Stillschweigen meiner Eltern.« Er begann, sein Pferd zu satteln.

      »Trägst du noch das Hemd der Albara’n?«, fragte Leron’das.

      Philip hielt überrascht inne. »Ja«, sagte er.

      »Ich habe herausgefunden, wie du dazu kamst.«

      Philip war sich nicht sicher, ob er noch eine weitere Wahrheit hören wollte, oder ob es nicht besser war, etwas nicht zu wissen. Doch er sagte nichts und Leron’das fuhr fort.

      »Peredur hatte eine Geliebte in Pal’dor. Meine traurige Base Sili’rana. Sie schenkte ihm das Hemd zum Abschied, als er Pal’dor für immer verließ. Das Hemd und die Silberpappel, die er auf dem Turmberg einpflanzte. Zwischen ihren Wurzeln vergrub er sein Geheimnis, den goldenen Schlüssel der Könige. Solltest du je den Wunsch verspüren, das Vermächtnis deiner Ahnen zu kennen, werde ich dich zu der Türe bringen. Sie zu öffnen, liegt allein in deiner Hand.«

      Frendan’no sagte, dass er Philip den beschwerlichen Weg in die Berge gerne durch geebnete Pfade erleichtert hätte. Aber da Philip die Höhe nicht gewohnt war, gab es für ihn nur die Möglichkeit, Schritt für Schritt höher zu steigen, dann wieder hinab in das nächste Tal zu gehen und schließlich weiter hinauf.

      Viele Tage gingen sie gemeinsam in einem endlosen Labyrinth von Tälern zwischen schroffen Bergflanken nach oben. Obwohl sie keinen einzigen Gipfel erklommen, stieg ihr Pfad beständig an. Manche Täler waren so schmal und tief, dass die Sonne ihren Grund nur um die Mittagszeit für einige Augenblicke streifte.

      Nach vier Tagen standen sie zum ersten Mal auf einem Gipfel. An den Hängen unter ihnen lagen verstreut einige Bergdörfer und Hirtenhäuser. Dabei waren viele Hänge so steil, dass es aussah, als würde der Berg senkrecht aus dem Boden wachsen.

      Wie lebte es sich wohl in einem solchen Gebirgsdorf, wo man den ganzen Winter über von der Außenwelt abgeschottet war? Sogar hier im Süden, wo die Winter dafür bekannt waren, mild und schneearm zu sein, gab es in dieser Höhe, auch jetzt mitten im Launing, noch weitläufige Schneefelder.

      »Wenn du dein Auge bemühst, kannst du vielleicht schon den Pia’tar de Giaz sehen, auf dem Munt’tar liegt. Die Menschen hier oben nennen ihn Elbenstein.« Frendan’no lächelte verschmitzt. »Dabei lautet seine richtige Bezeichnung Eisstein.«

      »Wissen die Menschen hier oben von euch?«, fragte Philip.

      »Wenn du fragst, ob manche von ihnen schon einmal in Munt’tar waren, dann sage ich: nein. Rond’taro ist meines Wissens der Einzige, der in den letzten tausend Jahren die Tore einer Elbenstadt für Menschen geöffnet hat. Aber wir treffen die Menschen ab und an in der Stille der Berge. Wenn Lawinen Dörfer überrollen, versuchen wir, ihnen zu helfen. Manche von ihnen nennen uns deswegen auch Lawinendämonen.«

      »Das ist nicht die Form von Dankbarkeit, die zu erwarten wäre«, sagte Philip empört, aber Frendan’no lächelte mild.

      »Es geht uns nicht um ihre Dankbarkeit. Wenn sich ein Schaf verläuft, helfen wir ihm auch zurück zu seiner Herde, und sobald es sie sieht, rennt es blökend davon. Die Berge sind wilde, unberechenbare Geschöpfe. Wer hier wohnt, liebt sie. Die Menschen wie die Elben und die Tiere. Wir alle wissen um diese Liebe des anderen, und trotzdem bleibt