Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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– beinahe zwei Jahre älter als Josephine. Sie war ein aufgewecktes Kind und sie stand oft ungeduldig vor der Wiege ihrer Schwester, als ob diese nicht schnell genug groß werden würde, um mit ihr zu spielen. Dann konnte Josephine endlich laufen. Felicitas nahm sie überall hin mit und zeigte ihr alles. Als die letzte große Seuche in Corona wütete, war Felicitas kaum älter als vier Jahre.« Er seufzte leise. »Die Menschen starben reihenweise und der Gestank, der aus der Stadt drang, war überwältigend. Erst starb die Mutter der Mädchen, dann ihr Vater. Die beiden Kinder klammerten sich in ihrer Trauer aneinander. Obwohl Josephine die Jüngere war, war ihre Kraft ungleich stärker. Als Felicitas die ersten Anzeichen der Krankheit zeigte, wich Josephine nicht mehr von ihrer Seite. Helena fürchtete, dadurch beide Kinder zu verlieren, aber sie brachte es nicht übers Herz, sie zu trennen. Wider Erwarten erholte sich Felicitas und behauptete steif und fest, dass Josephine sie geheilt hätte.«

      Philip hörte Frendan’no zu und vergaß seine Zweifel. Er tauchte ein in die Geschichte über zwei Schwestern, die beide seine Mutter waren. Kurz bevor er einschlief, begannen die Grenzen zu verschwimmen. Die fremde Felicitas, die ihn zur Welt gebracht hatte, bekam ein Gesicht, und er bekam ein Gefühl für sie. Das Gefühl, sie zu kennen.

      In den nächsten Tagen wurde der Weg beschwerlicher. Sie überquerten Geröllfelder und mussten nicht selten weit ins Tal hinabsteigen, damit Erós ihnen folgen konnte. Schließlich erreichten sie die Stelle, an der die Pferde aus Munt’tar untergebracht waren.

      »Hier musst du dich von deinen Tieren verabschieden«, sagte Frendan’no. Philip übergab Erós und Lu in die Gesellschaft einer ansehnlichen Herde, die auf einer weitläufigen Alm über der Baumgrenze weidete. Obwohl ringsum viel Schnee lag, war die Wiese saftig grün und ein in den Fels gehauener Stall bot Schutz vor Wind und Wetter.

      Philip sah hinunter auf unzählige Gipfel, aber wenn er sich umdrehte, ragten hinter ihm die Eisgiganten in den Himmel.

      Von der Pferdewiese bis Munt’tar waren sie weitere vier Tage unterwegs. Philip kämpfte gegen Schwindel und Kurzatmigkeit und war gleichermaßen berauscht wie beklommen, als er die Welt unter seinen Füßen immer kleiner werden sah. Die Kälte kroch ihm bis in die Knochen, und er konnte sich kaum noch vorstellen, wie es gewesen war, als die Sonnenstrahlen ihn wärmten und nicht nur gleißend in den Augen brannten. Trotzdem merkte er, wie sein Herz weit wurde. Immer öfter blieb er stehen, aber nicht nur, um zu Atem zu kommen, sondern auch, um seine Augen an der Herrlichkeit dieser majestätischen Landschaft zu weiden. Manchmal lauschte er der Stille so lange, bis sie durch seine Ohren in seine Seele drang und ihn alles vergessen ließ. Hier oben herrschte die Zeit nicht, und er war dem Himmel so nahe, dass ihn nichts bedrückte.

      2. Die rothaarige Elbin

      Elfrieda hatte den vorderen Gebäudeflügel des Archieristos noch nie gemocht. Der Lärm der Straße war hier überall zu hören. Schmutz und Staub drangen durch jede noch so kleine Ritze. Dies machte die regelmäßige Reinigung der öffentlichen Räume umso notwendiger.

      Heute hatte Elfrieda eine ganze Armee von Mädchen damit beauftragt, die Böden zu schrubben und Staub zu wischen. Sie hoffte, dass bei dem Durcheinander, das sich daraus ergab, keiner merken würde, dass sie selbst fehlte. Siebzehn Jahre Dienst im wichtigsten Hause der Kirche – einem Haus, welches das Wohlwollen des Herrn hätte erwecken sollen, nun aber täglich Beweise dafür erbrachte, dass es hinter Gottes Angesicht lag – hatten nicht ausgereicht, um ihre Schritte auch nur ein einziges Mal in die Verliese zu lenken.

      Doch heute würde sie es tun. Sie musste es tun, denn ihre bisherigen Versuche, dem rothaarigen Wesen zu Hilfe zu kommen waren gescheitert. Viel zu lang hatte sie gebraucht, um herauszufinden, wer der Elbin regelmäßig das Essen brachte. Dann hatte sie weitere kostbare Zeit darauf verschwendet, mit dem taubstummen Mann Kontakt aufzunehmen und ihn in ihren Plan einzubeziehen. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass er nicht nur taubstumm, sondern auch einfältig war. Es selbst zu versuchen, war ihre letzte Möglichkeit, und sie hoffte inständig, dass sie nicht zu spät kam, denn die Elbin befand sich seit mehreren Wochen dort unten.

      Die Kerker lagen in dem u-förmig angeordneten Gebäudekomplex auf der geschlossenen Seite. Für den Fall, dass jemand es wagen würde, ihr, der obersten Haushälterin, den Zutritt zu verweigern, hatte sie ein Schreiben verfasst und es mit dem Siegel des Heiligen Vaters versehen.

      Der Wachmann, der vor der obersten Tür herumlungerte, ließ sie jedoch ungefragt passieren, als sie, mit Putzeimer und Schrubber bewaffnet, an ihm vorbeirauschte. Er war neu und wusste nicht, dass ihr Aufgabenbereich normalerweise vor dieser Tür endete.

      Die Treppen, die nach unten führten, waren verdreckt und zum Teil abgesplittert. Die Luft roch faulig und feucht. Je weiter Elfrieda hinabstieg, umso dichter wurde der Gestank. Das Atmen fiel ihr schwer. Zwischen den beiden Türen, die die Welt dort oben von der darunter trennten, hallte jeder ihrer Schritte. Ihr Herz schlug heftig in der Brust, aber weniger aus Angst davor aufzufliegen, als davor, was sie hinter der nächsten Tür erwarten würde.

      Unter welch unwürdigen Bedingungen fristeten die Menschen, über die im Namen Gottes gerichtet werden sollte, hier ihre Tage? Elfrieda war der Meinung, dass ein allmächtiger Gott es nicht nötig hatte, durch die Hand eines Menschen zu strafen, und darum Menschen nicht das Recht hatten, dies in seinem Namen zu tun.

      Als sie die nächste Tür öffnete, trieb ihr der Gestank die Tränen in die Augen. Die Hand schützend vor Mund und Nase gepresst, sah sie sich in dem dämmerigen Raum um. Sie hatte fest damit gerechnet, auch hier mindestens einem Wachmann zu begegnen, aber der Vorraum war leer. Elfrieda stellte den schweren Eimer in eine Nische und steuerte, dicht an die Wand gedrängt, den hinteren Teil der Verliese an, wo sie die Elbin vermutete. Hin und wieder hing eine Öllampe an der Wand. Ihr eigener langer Schatten verfolgte sie aus dem einen Lichtkreis in den nächsten. Es war gespenstig still. Darum erschreckte sie der erste Laut, der hinter einer der schweren Eisentüren erschallte, so sehr, dass sie sich mit einem leisen Aufschrei in eine Nische drängte. Erst als sich ihr Herzschlag etwas beruhigt hatte und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren leiser wurde, erkannte sie, dass jemand sang. Die Stimme war rau, eine Melodie war kaum zu erkennen, und das Geräusch von schleifenden Eisenketten mischte sich immer wieder dazwischen.

      Nachdem Elfrieda sich nach allen Seiten umgesehen hatte und immer noch keine Bewegung in dem Gang wahrnehmen konnte, schlich sie weiter. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, aufrecht und mutig zu sein. Das Schreiben, das ihren Aufenthalt hier unten rechtfertigen sollte, steckte schließlich in der Tasche ihres derben Rockes. Sie hoffte, dass niemand merken würde, dass es sich um eine Fälschung handelte. Zumindest nicht, solange sie hier unten war.

      Natürlich würde es keinem auffallen, beruhigte sie sich selbst. Niemand wusste, dass sie des Schreibens mächtig war. Sie war schließlich eine Frau, und obwohl sie über eine kleine Armee von Dienstmägden gebot, war sie doch nur eine Hausbedienstete. Außerdem zweifelte sie daran, dass auch nur einer der Wachen mehr als das Siegel des Archiepiskopos erkennen würde.

      Der Plan war gut, aber sie hatte nicht mit der bedrückenden Macht dieser Gewölbe gerechnet. Nicht mit diesem Gestank.

      Obwohl ihr Herz immer noch heftig flatterte, zwang sie sich dazu, mit straffen Schultern und entschlossenen Schritten weiterzugehen. Es war ausgeschlossen, dass sich kein Wachposten hier aufhielt. Andererseits war sie jetzt schon so weit in den Kerker vorgedrungen und niemandem begegnet, dass sie der Verdacht beschlich, jemand müsste die Wachen weggeschickt haben. Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da war sie sich sicher, dass es nur so sein konnte.

      Wer hatte die Macht, die Wachen wegzuschicken? Der Archiepiskopos selbst. Aber der Archiepiskopos würde diesen Keller niemals betreten. Abgesehen davon, dass es hier erbärmlich roch und zudem feucht und dreckig war, hätte er mindestens hundert Schritte von seinem Audienzsaal bis hierher gehen müssen. Dann die schmalen Stufen hinunter – es war vollkommen abwegig. Wäre er hier, hätte sie keinen Schritt auch nur in die Nähe der Tür tun können. Wer … Elfrieda blieb wie angewurzelt stehen, denn plötzlich wusste sie, wer sich in den Verliesen aufhielt. Wenn er es war, dann war er genau dort, wo sie hinwollte.

      Flucht, nur weg