Kerstin Hornung

Die Nähe der Nornen


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      »Aber meine Urgroßmutter war doch in Munt’tar«, bemerkte Philip plötzlich.

      »Sie war meine Tochter, eine halbe Elbin, auch wenn sie sich für ein menschliches Leben entschieden hatte.«

      »Wie geht das?«, fragte Philip. »Kann man sich das aussuchen?«

      Frendan’no lachte. Es war das erste Mal, dass Philip ihn lachen hörte, aber als der Elbe Philips verständnislosen Blick bemerkte, wurde er wieder ernst.

      »Es gibt viele Entscheidungen, die man in einem Leben treffen kann, auch in einem kurzen Menschenleben. Wusstest du, dass dein Vorfahre Peredur auch die Wahl zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit hatte? Du hast diese Wahl auch, aber in deinem Fall verhalten sich die Dinge etwas anders.«

      »Ich verstehe nichts!«, gestand Philip.

      »In den frühen Zeiten, als die Menschen und die Elben noch nebeneinander in Frieden lebten, kam es öfter vor, dass sich zwei ungleiche Wesen ineinander verliebten. Die Liebe ist das Wichtigste, aber sie ist nicht das Einzige, was benötigt wird. Blut besiegelt einen solchen Bund und ein Ort der Macht. Die meisten von uns werden an einem solchen Ort geboren.«

      »Dann kann also jeder Mensch unsterblich werden?«

      »Wenn er von einem Elben geliebt wird und diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruht.«

      »Das heißt, Peredur wurde von einer Elbin geliebt«, stellte Philip fest. Leron’das hatte dies bereits erwähnt, aber damals war Philip nicht nach Geschichten zumute gewesen.

      Frendan’no nickte. »Von mehr als einer. Er wuchs in Pal’dor auf.«

      »Aber wieso habe ich diese Wahl?« Endlich hatte Philip jemanden gefunden, der bereitwillig seine Fragen beantwortete.

      Frendan’no lächelte. »In deinen Adern fließt mein Blut, und auch wenn du nicht Rosis Schoß entsprungen bist, so bist du dennoch in gewisser Weise auch mein Kind und genau so liebe ich dich. Wenn du es willst, wird dein Leben so lange währen, wie deine Verbundenheit mit den Elben besteht.«

      »Warum hat Rosi das nicht gemacht? Warum keins ihrer Kinder bisher?« Philip bereute seine Frage, kaum, dass er sie ausgesprochen hatte.

      Frendan’nos Gesicht wurde traurig, das Licht in seinen Augen trübe, aber er antwortete trotzdem. »Warum Rosi es nicht tat, kann ich nicht sagen. Viele Nächte dachte ich darüber nach. Sie hat meinetwegen viel erduldet, aber sie scheute sich, mit mir zu gehen. Meine Tochter und auch deren Kinder, genauso wie deine Mutter und Josephine erfuhren von mir erst nach ihrem Eintritt ins Erwachsenenalter. Sie alle hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits für ihr Leben gebunden.«

      Philip spürte Frendan’nos Blick, aber er fürchtete sich davor, ihn anzusehen. Er fürchtete sich davor, in den Augen des Elben den Wunsch zu sehen, der in dessen Worten mitgeschwungen war. Er dachte an Arina. Zum ersten Mal seit jener Nacht auf der Lichtung ließ er den Gedanken an sie zu. Es war schmerzhaft. Philip hatte ihr versprochen, nach Eberus zu reisen, und er wünschte sich mehr als alles andere, er könnte dieses Versprechen einhalten. Würde sie verstehen, dass er sich auf gar keinen Fall zu erkennen geben konnte? Mehr denn je zweifelte Philip daran, dass es eine Zukunft für sie beide gab, aber er wusste, dass, solange sie lebte, solange er lebte, ein Funken Hoffnung in ihm glühen würde. Er konnte den Weg, den Frendan’no ihm gezeigt hatte, nicht gehen.

      »Wenn es in meiner Macht liegt, werde ich dafür sorgen, dass meine Brüder, die nicht meine Brüder sind, beizeiten von dieser Möglichkeit erfahren«, versprach er. Frendan’no senkte seinen Blick und verstand, dass Philip seine Wahl getroffen hatte.

      Sie wanderten den Rest des Tages am Kamm weiter und suchten sich für die Nacht einen windgeschützten Platz an der Südseite des Berges. Philip mochte Frendan’nos stille Vertrautheit. Er wusste, dass der Elbe nichts von ihm verlangen würde, was er nicht selbst wollte, und dass er zu keinem Zeitpunkt sein Handeln wertete. Er war für ihn da, bereit, ihm zu helfen, seine Bürde zu tragen und ihm beizustehen, wenn er ihn brauchte.

      Philip lag schlaflos auf dem Rücken und dachte über alles Mögliche nach. Seine Gedanken waren wirr und zusammenhanglos, aber am Ende aller Dinge kam er immer wieder zu der Ausweglosigkeit seiner Situation.

      »Was soll ich tun, Frendan’no? Leron’das will, dass ich mich stelle, aber das kann ich nicht. Alle Menschen, die ich kenne, hoffen auf einen starken Mann, der sie führt. Sie hoffen auf einen, der König Levian die Stirn bietet und die Zauberer aus dem Land vertreibt. Doch ich kann das nicht. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so hilflos gefühlt. Alles, was zu mir gehört hat, wurde mir entrissen. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin.«

      Frendan’no schwieg und Philip vermutete, dass er schlief. Schließlich drehte er sich auf eine Seite und schloss die Augen.

      »Was du tun sollst, kann ich dir nicht sagen«, begann Frendan’no unverhofft. »Ich will dich auch nicht mit den Hoffnungen und Wünschen anderer belasten, wenn du doch eigene Wünsche und Hoffnungen hast. Obwohl ich mich nach Kräften bemühe, dir klarzumachen, dass du nichts verloren hast, sondern nur etwas Vergangenheit dazugekommen ist, kann ich dir den Schmerz nicht abnehmen. Du sagst, du weißt nicht mehr, wer du bist. Aber ich sehe noch viel von dir, ich spüre noch viel von dir und der Kraft, die in dir steckt. Eines Tages wirst du sie auch wieder spüren. Eines Tages wirst du möglicherweise verstehen, was du wirklich verloren hast und auch, dass du dadurch etwas anderes dazugewonnen hast.« Er machte eine Pause. »Es ist nicht jeder zum König geboren, selbst wenn das Blut vieler Könige in seinen Adern fließt. Wären die Dinge anders verlaufen, wärst du nicht der geworden, der du heute bist. Aber wenn du mich fragst, ich glaube, dass du ein guter König für die Menschen sein könntest. Jedoch bin ich kein Mensch. Wir Elben beugen unser Haupt nicht vor einem König, aber wir verneigen uns in Anerkennung selbst vor dem Geringsten, wenn ihm dies gebührt. Grübel nicht länger. Schlaf!«

      Aber Philip schlief nicht. Obwohl Frendan’no gewusst hatte, wer der Erbe der alten Könige war, hatte er auf dem Markt in Corona gestanden und hatte sein Kommen verkündet. Obwohl oder deswegen?

      »Seit wann wusstest du, dass ich nach Corona kommen würde? Seit wann wusstest du, dass ich es bin, der …«

      Frendan’no seufzte, setzte sich auf und zog die Beine unter sich. »Noch nicht sehr lange, dies sagte ich bereits. Vor Umlauf des ersten Frühlingsmonds kam Leron’das nach Munt’tar und berichtete von der Prophezeiung, die besagt, dass der König wiederkommen und ihm Boten vorausgehen würden, wie sie die Menschen nicht oft gesehen haben. Leron’das war der festen Überzeugung, dass wir Elben diese Boten sein werden. Ich war bereit, mit ihm zu gehen, nicht zuletzt meiner Schwester zuliebe, die um Leron’das fürchtet. Als wir in Corona ankamen, brachte er mich auf einem geheimen Pfad zu Resilius und dort erfuhr ich den Namen des letzten verborgenen Königs. Da erst wusste ich, dass du es bist.« Er lächelte versonnen. »Leron’das wurde ganz still, als er erkannte, dass ein Name allein oft nichts über die Person verrät, die dahintersteckt. Erst als ich ihn bat, dir entgegenzureiten, erwachte er aus seiner Starre.«

      »Deine Schwester ist das Herz von Munt’tar?«, fragte Philip ungläubig.

      »Hat er sie so genannt?«, fragte Frendan’no zurück.

      Philip nickte. »Er sagte, sie sei nach Eberus gegangen, um …« Die Erinnerung an das Gespräch, dass er mit Leron’das auf dem Turmberg geführt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Eberus, Eberus, Eberus. Wie lange war es her, dass er sich, noch unbeschwert und von Sehnsucht beflügelt, ausgemalt hatte, er könnte gemeinsam mit Leron’das in die Stadt der Kirche reisen und bei Sonnenuntergang auf das Meer hinaussehen. Arina leise seufzen hören, ihre Hand in seiner. Den Wind auf der Haut, der verspielt an ihren Haaren riss und die herausgezupften Strähnen in ihrem Nacken kräuselte.

      Heftig wünschte er sich sein Leben zurück. Sein unzulängliches, kleines Leben. Ein Leben mit Träumen, mit Hoffnung … mit Liebe. Er wollte wieder Philip sein und sich wie Philip fühlen.

      »Philip?«

      »Es ist nichts mehr von mir übrig.« Er rollte sich in seine Decke und kehrte Frendan’no den Rücken zu.