Rüdiger Marmulla

The Fulfillment


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komisches Gefühl, Körper vor sich zu haben, in denen vor wenigen Stunden noch das Leben steckte.

      Heute nahm ich an meiner ersten Sektion in der Pathologie teil. Im Sektionssaal ist in großen Lettern an die Wand geschrieben „media vita in morte sumus“.

      Ich habe das einmal recherchiert. Der Satz bedeutet, dass wir mitten im Leben dem Tod begegnen, und er geht auf einen frühmittelalterlichen gregorianischen Choral zurück. Der komplette Text lautet

      Mitten im Leben

      sind wir im Tod.

      Welchen Helfer suchen wir

      als dich, Herr,

      der du wegen unserer Sünden

      mit Recht zürnst.

      Heiliger Gott,

      heiliger starker,

      heiliger und barmherziger Erlöser:

      überlass uns nicht dem bitteren Tod.

      Es liegt etwas Geheimnisvolles um das Sterben, und ich kann es nicht ergründen.

      Heute lernte ich übrigens, was Senckenberg-Tumore sind. Wenn man die Leiche auf dem Sektionstisch lagert, dann gibt es auf der Unterseite der Leichenhaut Abdrücke von den Abflusslöchern des Sektionstisches. Diese regelmäßigen kreisrunden Aufwölbungen der Haut bezeichnet man als Senckenberg-Tumore. Man sieht sie, wenn man die Leiche auf die Seite dreht. Natürlich sind das keine echten Tumore. Das ist typisch Frankfurter Pathologenhumor.

      Als ich heute die Pathologie verließ, fühlte ich mich ganz trist. Gut, dass du zuhause auf mich mit einem wunderbaren Essen gewartet hast. Ja, es ist wahr, während meiner Sektionen und meiner Arbeit als Hilfswissenschaftlerin in der Anatomie schmeckt mir das vegetarische Essen deutlich besser. Das milde gelbe Curry mit Zucchini, Champignons und Basmatireis hat meinen Geschmack heute voll getroffen. Auch die Cashewkerne, mit denen Du die Mahlzeit getoppt hast, waren sehr raffiniert.

      Danke, Lars. Ich genieße unsere Zweisamkeit nach dem langen Jahr der Trennung ganz neu.

      Senckenberg

      „Lisa? Dass die Senckenberg-Tumore keine echten Tumore sind, habe ich ja verstanden. Aber wer oder was ist Senckenberg?“

      „Johann Christian Senckenberg lebte im 18. Jahrhundert und wurde ‚Frankfurter Stadtphysicus‘ genannt. Er war Arzt, Naturforscher und Botaniker. Seine Promotion handelte von der Heilkraft der Beeren des Maiglöckchens. Doch sein Privatleben war sehr traurig. Er war dreimal verheiratet, und alle seine Frauen und Kinder waren früh verstorben. Da bildete er mit seinem Vermögen eine Stiftung und widmete sich ganz der Forschung und Stiftungstätigkeit. Der volle Name unseres Anatomischen Instituts lautet ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Morphologie‘, weil sich die Anatomie früher allein mit der Form der Zellen und Zellverbände beschäftigt hat. Daneben wurden auch ein ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Pathologie‘ in Frankfurt und ein ‚Dr. Senckenbergisches Institut für Meeresforschung‘ in Wilhelmshaven und in Hamburg gegründet. Die Dr. Senckenbergische Stiftung mit ihren Instituten trug 1914 maßgeblich zur Gründung der Frankfurter Universität bei.“

      „Du kennst dich aber gut aus, Lisa.“

      „Natürlich. Das muss ich auch, wenn ich in der Anatomie promoviere. Das würde mir Professor Jürgens übelnehmen, wenn ich die Ursprünge unseres Instituts nicht kennen würde. Ich weiß, dass ihm die Geschichte der Medizin sehr wichtig ist. Und die Geschichte unseres Instituts sollte ich allemal kennen.“

      Ich lache. „Da hast du Recht, Lisa. Ich wollte, ich würde über die George Washington University auch so gut Bescheid wissen.“

      „Du kannst dich doch auch belesen, Lars.“

      „Das stimmt. Aber erst einmal mache ich uns ein schönes Abendessen.“

      Lisa schmiegt sich an mich. Und ich mag noch gar nicht mit dem Kochen beginnen.

      Biomedical Informatics

      Liebe Lisa,

      tagsüber lese ich, was das Zeug hält. Verzeih bitte, dass mir abends, wenn ich nach dem Abendessen noch die Küche sauber gemacht habe, regelmäßig auf der Wohnzimmercouch die Augen zufallen und ich einschlafe. Ich genieße die Zeit mir Dir. Und wenn ich neben Dir auf der Couch liege und die Augen schließe, dann bin ich sehr glücklich.

      Die Zeit, in der ich Francis morgens zu den GoetheKids bringe und nachmittags wieder abhole, ist die einzige Zeit des Tages, in der ich einmal an die frische Luft komme.

      Den Rest des Tages verbringe ich an meinem Leseschirm. Manchmal lasse ich mir die Fachliteratur auch vom Computer vorlesen. Ich lese alles zu den Biomedical Informatics rauf und runter. Auch aktuelle Fachartikel muss ich lesen.

      Diese Tage erinnern mich sehr an die Zeit meines Abiturs. Das einzige, das jetzt gegenüber meiner Abiturzeit anders ist, ist die Gegenwart von Dir und Francis. Es ist wundervoll, eine Familie zu haben.

      Ich habe genau gelesen, was Du in unsere gemeinsame Cloud geschrieben hast. Du magst das vegetarische Essen jetzt mehr. Ich werde deshalb von nun an verstärkt das Fleisch im Essen weglassen. Für heute Abend habe ich als Gericht eine Antipasti-Bowl mit Mozzarella auf Risotto geplant. Ich bin mir sicher, Du wirst es mögen.

      Bitte sage mir, wenn ich mehr für Dich tun kann. Nicht jeden Wunsch kann ich Dir von Deinen Augen ablesen. Aber dazu habe ich ja Ohren. Ich will Dir jeden Wunsch erfüllen. Alles, was mir möglich ist, will ich tun.

      Lisa, Du bist meine Liebe.

      Funktionshistologie

      „Lars, ich glaube, ich werde deine Hilfe für meine Forschung in der Anatomie benötigen.“

      „Ja? Was kann ich für dich tun?“

      „Meine Aufgabe ist es ja, aus der Verknüpfung der Zellverbände der Großhirnrinde abzuleiten, welches Bild die Sterbenden zuletzt gesehen haben. Ich habe schon jede Menge dreidimensional rekonstruierte Großhirnrinden aus meinen elektronenmikroskopischen Untersuchungen erstellt. Aber jetzt weiß ich gar nicht, wie es weitergehen soll.“

      „Gibt es denn Fotografien von den Räumen, in denen deine Körperspender verstorben sind?“

      „Nein.“

      „Ja, das geht nicht. Wir werden nie herausfinden können, wie die Daten im Hirn verschlüsselt werden, wenn wir die Zellverbände nicht mit dem zuletzt gesehenen Bild der Verstorbenen vergleichen können.“

      „Was soll ich tun?“

      „Du musst in Erfahrung bringen, wo genau die Körperspender verstorben sind. Dann musst du an die Orte fahren und Fotos von den Räumen anfertigen.“

      „Puh. Und wenn das nicht geht?“

      „In diesem Fall wären die Großhirnrinden, die du schon rekonstruiert hast, für diese Untersuchung unbrauchbar.“

      „Dann habe ich mir vielleicht viel Arbeit umsonst gemacht?“

      „Tja. Also, erst einmal muss das Studiendesign stehen, wenn man sich unnötige Arbeit ersparen möchte.“

      „Ich wollte, ich hätte dich früher befragt. Was empfiehlst du mir?“

      „Ich empfehle, die Sterbezimmer zu der Tageszeit und mit den Lichtverhältnissen zu fotografieren, zu denen die Körperspender verstorben sind. Und dann vergleichen wir helle und dunkle Sterbeorte, um erst einmal im Ansatz herauszufinden, wie helle und dunkle Flächen im Hirn kodiert werden. Wenn wir das haben, dann suchen wir helle und dunkle Objekte innerhalb der Fotografien eines Sterbeortes und innerhalb des zugehörigen Hirns auf. Wir werden uns also anfänglich allein auf Schwarz-Weiß-Informationen beschränken, um zu beschreiben, wie Formen und Umrisse im Gehirn verschlüsselt werden.“

      „Und Farben kommen später einmal.“

      „Irgendwann. Ja.“

      „Dann habe ich