Rüdiger Marmulla

The Fulfillment


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Dissertation zeigen könnte, mit welchen Methoden man nicht zum Ziel kommt. Dann können sich nachfolgende Untersuchungen gezielt anderen Wegen widmen.“

      „Da hat dein Doktorvater Recht, Lisa.“

      „Glaubst du, ich werde jemals ein Bild aus den Zellverbänden der Großhirnrinde ableiten können?“

      „Grob gerasterte Schwarz-Weiß-Bilder vielleicht schon. Für exaktere Farbbilder wird ein neues Studiendesign notwendig sein.“

      „Wie würde das aussehen?“

      „Man käme nicht drumherum, den Sterbenden eine Kamera anzulegen, die die letzten visuellen Wahrnehmungen aufzeichnet. Die Frage ist nur, wer das will.“

      „Wir haben ja ausschließlich Körperspender, die sich der Wissenschaft verbunden fühlen.“

      „Ja. Trotzdem ist doch der Tod ein sehr intimer und privater Moment. Wer will ihn schon auf solch technische Weise mit den Forschern und der Nachwelt teilen? Ich bin mir unsicher.“

      „Denkst du manchmal an das Sterben?“

      „Ja, Lisa. Mein Papa hatte ja schon Jahre vor seinem Sterben eine Nahtoderfahrung, die mich sehr bewegt hat, als er sie mir berichtete. Lange hatte Papa ja darüber geschwiegen und sich nicht getraut, mit anderen zu teilen, was er erlebt hatte. Er wollte vermeiden, dass andere denken, er sei ein Spinner. Über meinen Papa haben, solange er lebte, immer wieder viele Menschen gelacht. Für manche war er mehr so eine traurige Witzfigur.“

      „Woher kam das?“

      „Mein Papa war in einem Heim aufgewachsen. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Er hatte nie jemanden, der an ihn geglaubt hat. Niemand hat ihn gefördert. Und Freunde hatte er auch nicht, bis er Mama kennenlernte. Mit Mama fing Papas Leben noch einmal ganz neu an. Aus Papa wäre beruflich viel mehr als nur ein Versicherungsmathematiker geworden, wenn er gute Förderung erfahren hätte.“

      „Glaubst du, Stephan war glücklich mit seinem Leben?“

      „Ja. Papa hat das Beste aus allem gemacht. Und das Beste war, Mama kennenzulernen und mich als Sohn zu bekommen. Und seine Nahtoderfahrung hat auch noch einmal sein Leben umgekrempelt.“

      „Stephan war damals bei Hannah und Johannes in Heidelberg und hat sich alles zum Glauben erklären lassen, nicht wahr, Lars?“

      „Ja. Und seither ist es in unserer Familie üblich, tiefgehende Fragen und Lebenszweifel mit Hannah und Johannes zu besprechen.“

      „Als ehemalige Diakonisse ist Hannah dazu ja auch bestens geeignet. Mein Vater sagt immer, dass Hannah das Diakonissenkrankenhaus früher echt vorangebracht hat.“

      Ich nicke. „Wir haben damals unser Krisengespräch mit Hannah und Johannes nicht zu Ende gebracht.“

      „Hannah und Johannes haben sich darauf beschränkt, für uns zu beten, anstatt uns Lebenstipps mit auf den Weg zu geben.“

      „Ja. Das haben sie. Wollen wir die beiden in Heidelberg besuchen gehen? Sie müssen wissen, dass zwischen uns alles gut ist.“

      Lisa lacht herzlich „Ja, Lars. Das ist für die zwei eine Gebetserhörung. Da sollten sie auch eine Rückmeldung bekommen. Das wird die beiden auch ermutigen. Ihre Gebete waren nicht umsonst.“

      „Ich werde ihnen einen Call senden. Und dann besuchen wir sie.“ Ich tippe auf das Holokrypt-Tattoo an meinem Handgelenk. Ich habe sofort eine Verbindung mit Johannes. Wir dürfen sie am Wochenende besuchen gehen. Perfekt.

      Die perfekte Ehe

      Regionalbahn, Heidelberg, Hauptbahnhof, Straßenbahn, Bismarckplatz, Eisdiele, Bohnerwachs. Alles wie immer. Ich sitze so, dass ich vom Wohnzimmerfenster aus auf das Heidelberger Schloss blicken kann. Lisa sitzt rechts von mir. Uns gegenüber sitzen Hannah und Johannes. Francis ist mit Kerstin zuhause geblieben, damit wir vier ungestört miteinander sprechen können.

      Hannah und Johannes reichen Kaffee und Apfeltaschen.

      Ich eröffne das Gespräch. „Bei uns ist die Welt wieder in Ordnung. Wir wohnen wieder zusammen und sind wieder eine Familie. Danke für alles, was ihr für uns getan habt.“

      Lisa schließt sich meinem Dank an. „Dass wir bei euch immer willkommen sind, ist ein Segen für uns. Ihr seid uns auch ein Vorbild. Ihr führt die perfekte Ehe.“

      Hannah lächelt.

      Johannes auch. Er sagt ganz unerwartet: „Wenn man davon absieht, dass Hannah einen Mann mit einer homosexuellen Biographie geheiratet hat, passt bei uns alles.“

      Lisa bleibt cool.

      Ich verschlucke mich hingegen beinahe an meiner Apfeltasche. Ich muss erst einmal etwas trinken. Lisa schlägt mir sanft auf den Rücken. Dann bringe ich gerade so mit einem Krächzen heraus: „Was?“

      „Ja, Lars, wusstest du nicht, dass ich deinen Vater bei einem gleichgeschlechtlichen Date kennengelernt habe, das deine Mutter eingefädelt hat?“

      Lisa lacht vergnügt. Das ist ihr offensichtlich auch neu.

      „Wieso sollte meine Mutter so etwas getan haben?“

      „Deine Mutter wollte, dass dein Vater glücklich wird. Nach neun vermasselten Dates mit Frauen, dachte sie sich, dass dein Vater die Dates mit Frauen vielleicht deshalb immer in den Sand setzt, weil er in Wirklichkeit auf Männer steht.“

      Lisa grinst immer noch bis zu den Ohrläppchen.

      Ich kann mir das alles nicht vorstellen. „Und wie lief das Date mit euch beiden ab?“

      „Katastrophal. Deinem Vater wurde während unseres Treffens klar, dass er nicht auf Männer steht – aber auf Freundschaft. Er wünschte sich, dass wir zwei Freunde werden.“

      Ich bleibe einsilbig. „Ohne Sex…“

      „Ohne Sex. Ja, Lars.“

      Ich bin erleichtert.

      „Und dann hast du Hannah geheiratet?“ Lisa legt die Stirn in Falten und schaut jetzt ernst.

      „Ich hatte etliche kurze Beziehungen mit Männern. Die waren alle sehr schmerzlich für mich. Die längste Beziehung hatte ich zu einem älteren Mann, der mich nach fünf Jahren gegen einen jüngeren Freund eingetauscht hat. Mir ging es viele Jahre ganz elend. Ich fühlte mich wie eine Ware auf dem Markt der Begierden. Von da an war ich unfähig, eine körperliche Beziehung zu einem anderen Menschen aufzubauen. Ich fürchtete, für immer allein zu bleiben.“

      Ich erkenne noch keine Verbindung zu Hannah. Die ganze Geschichte wirkt auf mich ganz bizarr. „Und wie ging es dann weiter?“

      „Auf der Hochzeit deiner Eltern lernte ich Hannah kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich spürte, dass gute Schwingungen von ihr ausgingen. Ich liebe, wie Hannah das Leben liebt. Sie schenkt mir eine Geborgenheit, die ich bei Männern immer gesucht aber nie gefunden habe.“

      Lisa staunt. „Das ist ja ein Wahnsinnsschritt, den Hannah da auf dich zu gemacht hat.“ Lisa schaut wechselweise Hannah und Johannes an.

      Hannah ergreift wieder das Wort. „Es war vor allem ein Wahnsinnsschritt, wenn man bedenkt, dass ich kurz davor war, als Diakonisse auf mein Altenteil nach Marburg ins Mutterhaus zu gehen. Das Mutterhaus und die Dienstgemeinschaft waren ja sozusagen meine Altersvorsorge. Ich bin sehr dankbar, dass die Dienstgemeinschaft eine Lösung für mich und meine Finanzen gefunden hat.“

      Lisa zieht die Augenbrauen nach oben. „Und du kannst Johannes vertrauen, dass er nicht morgen mit einem Mann durchbrennt?“

      Hannah nickt. „Da bin ich mir ganz sicher…“

      Johannes sagt sehr leise „Ich hatte schon die Jahre vor Hannah keine sexuellen Kontakte mehr mit Männern, weil ich so an der Unverbindlichkeit und Kälte der Kontakte gelitten hatte. Ich litt darunter, nur eine Sahneschnitte für die schnelle Kaffeetafel zu sein.“

      Lisa schüttelt den Kopf. „Es soll aber auch homosexuelle