Rüdiger Marmulla

The Fulfillment


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unerschrocken bricht Lisa mal wieder ein Tabu und fragt, mit dem Zeigefinger abwechselnd auf Hannah und Johannes deutend „Und? Läuft da zwischen euch was?“

      Hannah lächelt wieder und nickt. „Freundschaft. Liebe. Verbundenheit.“

      Lisa lässt nicht locker. „Und Sex?“

      Hannah räuspert sich und überlässt jetzt Johannes das Reden. „Ja. Das auch. Gewiss nicht so stürmisch wie zwischen euch beiden. Aber mit Leidenschaft und großer Ausdauer ist es auch bei uns möglich. Ich genieße es, mich bei Hannah ganz fallen lassen zu können.“

      „Also ist es doch eine Mann-Frau-Sache zwischen euch, und nicht so ein Mutter-Sohn-Ding?“ Lisa bohrt und bohrt. Es wird mir schon echt unangenehm.

      Doch Johannes bleibt sehr souverän und locker auch bei diesem Thema. „Wir lieben uns. Auf allen Ebenen.“

      „Alle Achtung.“ Lisa nickt und knufft mich in die Seite, als sie merkt, dass mein Kopf bei diesem Thema rot wurde.

      Eklat

      Lisa kommt ganz niedergeschlagen nachhause. So kenne ich sie gar nicht. „Was ist los, Lisa?“

      „Professor Jürgens ist richtig böse auf mich. Er hat mich heute hochkant aus dem Labor geworfen.“

      „Wieso das?“

      „Ich hatte ihm gesagt, dass wir im Frühjahr unser zweites Kind erwarten. Da ist er ausgetickt.“

      „Das verstehe ich nicht. Erzähle mir alles. Er muss doch irgendwas gesagt haben.“

      „Ja, das hat er. Er sagte: ‚Frau Krönlein, das ist unverantwortlich, was sie da machen. Sie hantieren zur Gewebekontrastierung mit radioaktivem Uran und arbeiten an einem Elektronenmikroskop, das Röntgenbremsstrahlung erzeugt. Und dabei sind sie schwanger. Bis zur Geburt ihres Kindes werden sie kein Gewebe mehr verarbeiten und auch nicht mehr mikroskopieren. Haben sie schon einmal etwas von Mutterschutz gehört? Schluss. Sie verlassen jetzt mein Labor.‘ So verärgert habe ich Professor Jürgens noch nie gesehen. Jetzt fühle ich mich ganz elend.“

      „Er hat so reagiert, weil er dich mag. Das musst du richtig verstehen.“

      „Wahrscheinlich hast du Recht, Lars. Trotzdem bin ich noch ganz durcheinander. Ich sehe immer noch den Zorn in seinen Augen.“

      „Das war nicht Zorn. Das war reine Fürsorge.“

      „Ja. Wahrscheinlich. Meine ganze Doktorarbeit muss jetzt ruhen.“

      „Naja, du musst als nächstes sowieso erst einmal alle Sterbezimmer fotografieren. Da bist du keinem Strahlenrisiko ausgesetzt. Du bist also nicht ganz untätig.“

      „Lars? Ob unser Kind Schaden genommen hat?“

      „Kannst du das nicht prüfen lassen?“

      „Ich könnte eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Da könnte man sehen, ob unser Baby eine Fehlbildung hat.“

      „Ja. Mache das, Lisa.“

      „Und was wäre die Konsequenz?“

      „Ich weiß nicht.“

      „Wenn unser Kind eine Anenzephalie oder eine Spina bifida aperta hat, dann werde ich es auch zur Welt bringen.“

      „Anenzephalie? Spina bifida aperta? Was ist das?“

      „Bei der Anenzephalie entwickelt das Baby kein Gehirn, und es fehlt auch die Schädeldecke.“

      „Ach du meine Güte. So etwas gibt es?“

      „Ja. Wir haben in unserer anatomischen Sammlung ein paar Fälle.“

      „In Alkohol eingelegt?“

      „Genau.“

      „Und eine Spina bifida aperta? Was ist das?“

      „Das ist eine Fehlbildung der Wirbelsäule. Die Wirbelsäule ist offen und wird nicht durch Haut oder Bindegewebe bedeckt. Man schaut direkt auf das offene Rückenmark.“

      „Puh. Jetzt verstehe ich Professor Jürgens Ärger schon sehr gut. Was machen wir?“

      „Ich werde Maurice in jedem Fall zur Welt bringen. Ein Schwangerschaftsabbruch kommt für mich nicht in Frage.“

      „Für mich auch nicht, Lisa.“ Ich nehme sie in die Arme. Ich spüre Lisas innere Unruhe. Und ich fühle, dass sie sich über sich selbst ärgert, weil sie den Mutterschutz missachtet hat. „Die Wahrscheinlichkeit ist doch größer, dass unser Kind gesund zur Welt kommt, oder?“

      Lisa zieht ihre Schultern nach oben. Sie weiß es nicht.

      Ich fühle mich jetzt auch ganz traurig und niedergeschlagen.

      Weihnachtszeit

      Liebe Lisa,

      zur Christmesse liefen wir drei im frischen Schnee zur Alten Nikolaikirche. Auf dem Römerberg stand wieder eine riesige Tanne. Alles war wunderbar mit Lichtern geschmückt.

      Pastor Albert ist in diesem Herbst in den Ruhestand gegangen. Ein neuer Pfarrer ist da. Seine Predigt sprach uns so gar nicht an. Er sprach so langatmig, dass ich jetzt noch nicht einmal sagen könnte, was er uns mit seiner Predigt überhaupt mitteilen wollte.

      Zurzeit ist alles im Fluss und ändert sich. Das müssen wir so hinnehmen.

      Zum Heiligen Abend kochte ich uns Gänsebrust mit Knödeln, Maronen und Rotkraut – so wie Papa das immer gemacht hat. Leider kam das Fleisch im Essen so gar nicht bei Dir an. Naja, wir essen in letzter Zeit mehr vegetarisch. Ich wollte einfach an Papas alte Tradition anknüpfen.

      Für Francis haben wir einen Flugsimulator gekauft. Die holographische Darstellung des Cockpits und der Landschaft ist grandios. Trotzdem ist Francis mit dem Flugsimulator vollkommen überfordert. Ich glaube, das war doch keine so gute Idee. Mit den Kissen und dem Kleiderbügel spielt sich das Fliegen für ihn doch besser.

      Und dann ist da eine innere Traurigkeit, die in der Schwangerschaft nach uns greift. Wird unser Maurice gesund zur Welt kommen? Wir sprechen darüber nicht viel. Doch ich sehe Dir die Sorge an, Lisa. Ich fühle mich ganz trüb. Wenn Maurice doch schon auf der Welt wäre.

      Zum Nachtisch servierte ich uns leckeren Bratapfel mit Vanillesauce. Francis klatschte vor Freude in die Hände, als ich mit den Bratäpfeln aus der Küche kam. Und es roch auch sehr gut. Mit dem Nachtisch habe ich bei Euch beiden voll ins Schwarze getroffen.

      Frühling

      Lieber Lars,

      jetzt haben wir beide schon so lange nicht mehr in unser Tagebuch geschrieben. Es sind nur noch vierzehn Tage bis zum errechneten Entbindungstermin. Und Du bist heute Morgen nach Washington aufgebrochen. Dein Examen rigorosum steht an. Du wirst nur zwei Tage weg sein. Und doch vermisse ich Dich schon jetzt unendlich.

      Ich glaube, ich habe eine Frühjahrsdepression. Ich fühle mich ganz matt und lustlos. Das fünfte Semester habe ich gerade so zu Ende gebracht.

      Ulrich macht jetzt sein Physikum. Die Zahnmediziner machen erst ein Semester nach den Humanmedizinern ihre Zahnärztliche Zwischenprüfung. Ob ich Ulrich heute Abend einmal anrufe und frage, wie’s läuft? Ach, vielleicht mache ich ihn dann nur nervös. Das ist wahrscheinlich keine gute Idee. Ich lasse es.

      Noch hast Du Dich nicht gemeldet. Du bist noch mit dem Flugzeug unterwegs. Und ich weiß nicht wohin mit mir selbst. Der Tag schleppt sich einfach so dahin.

      Ach, ich lege mich im Wohnzimmer einfach auf die Couch. Ich warte, dass Du Dich meldest.

      D.C.

      Ich sende Lisa einen kurzen Call, dass ich in Washington eingetroffen bin. Ich schicke nur eine knappe Sprachnachricht. Heute Mittag ist meine Prüfung. Ich bin gut in der Zeit. Was werden die mich wohl examinieren? Und warum wollen John und der Dekan, dass