John Marten Tailor

Der Fall - Amos Cappelmeyer


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Eine warme Hand legte sich fest um meine Kronjuwelen, presste sie zusammen, doch es schüchterte mich überhaupt nicht ein. Ihre geröteten Rehkitzaugen sprachen für sich selbst. Ein überwältigender Moment, der hoffentlich nie ein Ende fand.

      Doch es klopfte an der Tür und beraubte mich meiner Illusion, schneller als ich Oh sagen konnte. So spielte das wahre Leben.

      »Herein«, bat ich verdrossen. Eine Frau spazierte in den Raum, erfüllte ihn sogleich mit ihrem Karma. Sie stellte sich als Annemarie Seeling vor und überreichte mir einen bunten Floristenstrauß.

      Ah, Blumen. Eine Schachtel Kondome hätte ich bevorzugt. Ich legte das Gestrüpp auf die Konsole in Ermangelung eines Gefäßes.

      »Was tust du denn hier?«, wisperte Audrette erbost.

      »Entschuldigung, kennen wir uns?« Ich war verwirrt. Der Name sagte mir nichts.

      »Ich bin gekommen, um Sie persönlich um Verzeihung zu bitten. Wir hatten gewiss nicht den besten Start am Telefon. Aber Audrette spricht nur in den höchsten Tönen von Ihnen.«

      Telefon? Jetzt dämmerte es mir.

      »Soso, die berüchtigte Frau Seeling. Was für eine Überraschung.« Sie war entschieden jugendlicher, als in meiner Vorstellung und sah eigentlich verdammt gut aus, wie sie an der Seite von Audrette stand. Verstohlene Blicke wurden getauscht. »Frau Seeling, danke für die Blumen. Sie sehen völlig anders aus, wie ich erwartet habe, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben dürfte.«

      »Gewiss, das höre ich des Öfteren. Sie entsprechen aber auch nicht dem Bild, das ich erwartet habe, Herr Cappelmeyer.«

      »Was Sie nicht sagen. Ist das gut oder weniger gut für mich?« Ich zwinkerte verschmitzt. Ihre Augen wanderten zu Audrette, doch deren Handy brüllte um Gehör.

      »Verflucht, nicht jetzt. Ja, hallo? - Was? Moment, ich komme runter.« Audrette verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von mir, dann streifte sie dezent mit der Hand über den athletischen Körper der Freundin. »Die Pflicht ruft. Ich kann euch zwei doch alleine lassen?« Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, wollte Annemarie wissen, ob ich wahrhaftig über die sagenumwobenen Kräfte verfüge. Ich zeigte mich verwundert über ihre Andeutung.

      Plötzlich Geräusche, die klangen wie Salven aus einem Gewehr, Schreie auf dem Flur verbreiteten Angst und Schrecken. Annemaries Augen weiteten sich.

      »Sind das etwa Schüsse?« Zeitgleich schrillte ihr Handy los, sie konnte gar nicht fix genug rangehen, zitterte regelrecht vor Aufregung. »Audrette! Was ist passiert? Es klingt wie ...«

      »... unter Beschuss. Macht, dass ihr da wegkommt! Pass auf Amos auf!«, drang Audrettes Stimme aus dem Lautsprecher.

      »Sicher, aber ...« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schwang beherzt meine Beine über die Bettkante. Mist, keine Schuhe! »Hoppla. Nicht so hastig, Cappelmeyer.« Annemarie unterstützte mich nach Kräften, da ich meinen physischen Status eindeutig überschätzt hatte. »Gemeinsam schaffen wir das.«

      Als ich schließlich auf meinen Beinen stand, ging es halbwegs.

      »Wo sind meine Schuhe?«

      Frau Seeling spähte aus dem Zimmer. Noch immer schwirrten Kugeln umher. Dem Geräusch nach handelte es sich um ein halbautomatisches Gewähr, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben durfte. Wie gesagt, meine Kenntnisse beruhten auf Fernsehserien. Putz flog - nur zu real - von den Wänden.

      »Ich glaube nicht, das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, danach zu suchen! Los komm jetzt. Ich kann einen Notausgang sehen. Ist nicht weit.«

      »Vielleicht nicht, aber du wurdest auch nicht angeschossen.«

      Annemarie zerrte mich hinter sich her.

      »Für Audrette, Amos.« Für Audrette, ein Fuß vor den Nächsten. »Das machst du prima.« Was blieb mir für eine andere Wahl, um diesen dunklen Mächten zu entfliehen? So schlichen wir das Treppenhaus eines Nebenausgangs hinunter und versicherten uns, dass hier draußen keine Gefahr drohte.

      »Hoffentlich ist Audrette nichts passiert.«

      »Oh, das hoffe ich auch inständig.«

      Aus unerfindlichen Gründen gelang es mir, uns zielsicher zu einem Taxistand zu navigieren, wo Fahrzeuge in einer Reihe warteten, vermutlich um ihre Pause zu absolvieren.

      »Kennst du dich hier etwa aus?«, fragte meine Begleitung irritiert.

      »Nein. Ja. Egal. Komm.« Wir kletterten in das erstbeste Taxi. Im Rückspiegel traf mich der belustigte Blick des Fahrers, ob unserer recht zwielichtigen Erscheinung, doch als Profi hatte er in den Jahren einiges gesehen, da war ein Kerl im Nachthemd ohne Schuhe nur eine weitere amüsante Anekdote in der Pokerrunde.

      »Wo soll`s denn hingehen, die Herrschaften?«

       Die Frage aller Fragen ...

      »Ich weiß wohin«, flüsterte Annemarie geheimnisvoll.

      »So?«

      »Zur ...«, als sie den Zielort nennen wollte, zerbarst die Frontscheibe in einer Implosion. Das Gehirn des Fahrers verteilte sich über uns. Na gut, hauptsächlich auf Annemarie, die hinter ihm saß. Sie kreischte hysterisch, verängstigt wie ein kleines Mädchen in der Geisterbahn. Das Geschoss blieb in der Kopfstütze direkt vor ihrer Nasenspitze stecken. Welch ein Glück.

      »Du musst still sein!« Ohne nachzudenken, zerrte ich die würgende Frau aus dem Taxi in ein Gebüsch, angeborenen Urinstinkten folgend, schloss sie kurz in meine Arme und streichelte beruhigend ihren Rücken. Woher ich meine Ruhe nahm, blieb mir ein Rätsel. Aus der Ferne rückten Martinshörner an. Nicht lange und die Kavallerie würde das Krankenhaus stürmen. Endlich.

      Direkt hier gab es einen Park mit einem See, erinnerte ich mich, überprüfte, ob wir allein waren und zog die zitternde Annemarie aus, die abwesend alles über sich ergehen ließ.

      »Pst, ganz ruhig. Das muss sein.« Ich wusch sie, tupfte ihr Gesicht mit dem befeuchteten Unterhemd ab. Die Lufttemperatur erreichte knapp den zweistelligen Bereich, das Wasser war bestialisch kalt, aber es nützte nichts. Jetzt erhielt ich Gewissheit, wie makellos meine zitternde Begleiterin war. Falscher Zeitpunkt, tadelte ich mich selbst. Just in dem Moment, als ich mich unter Schmerzen hinkniete, um unsere Sachen ins eisige Nass zu tauchen, passierte es.

      Zwei Schüsse. Einer ging ins Leere und verschwand in der Botanik, ohne Schaden anzurichten, eine Kugel streifte Annemaries Hüfte. Doch sie gab keinen Mucks von sich, im Gegenteil, sie stellte sich schützend vor mich und trieb mich ins Wasser.

      »Tauchen, so tief und weit, wie du nur kannst, alter Mann!« Ja, tauchen konnte ich Nicht-Sportskanone, Großvater Luitpolt sei dank. Er hatte mich und meine Cousins spielerisch an das Nass herangeführt. Nur die Temperatur ließ zu wünschen übrig. Meine Zähne schlugen bibbernd aufeinander. Wenigstens spürte ich die kaputte Rippe nicht. Durch die Eiseskälte zeigte sich der kleine See klar wie ein Kristall, mit einer Länge von gut 150 Metern, die es zu überwinden galt. Gräser und alte Fahrräder dienten als neues Zuhause von Aalen. Ich fröstelte. Mit meinen auf Miniaturgröße zusammengeschrumpften Entlein konnte ich keine Frau beeindrucken. Mein Körper fühlte sich unvertraut an, doch Annemarie spornte mich zur Höchstleistung an. Sie kniff mir in den verlängerten Rücken. Beeil dich, winkte sie energisch, ihre Kreditkarte klemmte zwischen den Zähnen. Eine eiskalte Strömung durchkreuzte unsere Bahn. Die Haut, die mein Skelett überzog, vermittelte mir das Gefühl, nicht zu mir zu gehören.

      Endlich erreichten wir das rettende Ufer. Durchgefroren, am Rande der Erschöpfung, rubbelten wir uns gegenseitig trocken. Für Außenstehende gaben wir das Bild von zwei Perverslingen, die es bitternötig hatten.

      Erfreulicherweise hatte meine Wunde nicht erneut zu bluten begonnen. Den durchweichten Verband riss ich vorsorglich herunter. Glückwunsch: Verfolgt, unter Beschuss, keine Kleider mehr am Leib, einziger Pluspunkt blieb eine Kreditkarte. Annemarie war stets auf der Hut und erklärte mir, dass wir diese vermutlich nur ein einziges Mal benutzen könnten. »Na toll. Auch zu viel fernsehen