John Marten Tailor

Der Fall - Amos Cappelmeyer


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war ein Wort.

      Gegenüber dem Verlagshaus erstreckte sich ein Parkstreifen mit Blick auf den Eingangsbereich. Ein anderer schwarzer SUV mit abgedunkelten Fenstern räumte soeben einen Parkplatz, den Audrette für ihr Vehikel beanspruchte.

      War ein scheußlicher Klotz, dieses Verlagsgebäude, mindestens fünf Stockwerke hoch. Erwartungsgemäß würde dort eine Menge Aktivität herrschen. Observieren war mühselige Kleinarbeit und einschläfernd, aber ein notwendiges Übel. Sie pochte darauf, zu erfahren, wer im Verlagspalast Kniebrecht verkehrte. Idealerweise ohne die ganze Zeit bei kaltem Kaffee und Donuts im Auto zu hocken. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, beschloss Audrette, eine dieser ultramodernen Kameras mit Wifi-Funktion zu kaufen, um das Signal über einen Hotspot weiterzuleiten. Den Verkäufer im Elektronikfachmarkt quatschte sie derart schwindelig, dass er ihr Handy direkt und völlig kostenlos als Empfangsquelle einrichtete.

      Auf der Hinfahrt war sie an einem Fünfsterne-Hotel vorbeigekommen, wenige Minuten vom Zielobjekt entfernt. Dort fuhr sie direkt vor dem Haupteingang vor, wo ein Page galant den Wagenschlag öffnete und der Dame beim Ausstieg aus ihrem Dickschiff half.

      »Willkommen im Mayfair-Hotel.«

      »Herzlichen Dank.« Hier zählte der perfekte Auftritt. Sie löste auf dem Weg zu Tür den Dutt, um ihre wallende Mähne für sich sprechen zu lassen. Das gerissene Luder besaß viele Facetten und egal wie, es galt, das Ziel um jeden Preis zu erreichen. Nach einem freundlichen Empfang wurde allerdings rasch klar, dass es hier und heute zu keinem Einvernehmen kommen würde.

      »Sie haben keine Reservierung? Dann tut es mir leid. Es ist Messezeit. Ich kann nichts für Sie tun.« Ob es nun stimmte oder nicht, der Rezeptionist saß am längeren Hebel.

      »Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe bereits allen meinen Geschäftspartnern Ihr Haus genannt!« Aber da half dann weder Empörung noch ein Schmollmund. Doch wie aus dem Nichts tauchte einer jener Geschäftsmänner auf, die sie großzügigerweise mitgenommen hatten. Er wollte seinen Schlüssel bei der Rezeptionistin abgeben, als er seine bezaubernde Mitreisende erkannte.

      »Ach, sieh an. Die Welt ist wahrhaftig klein. Haben Sie etwa auch ein Zimmer hier?«»Nein, nein, eben nicht.« Wie auf Kommando schüttete sie ihr Herz bei ihm aus, verfiel wieder in ihren breiten Akzent; Hotel ausgebucht, sie fremd in der Stadt, allein, schnief.

      »Bedaure, aber ich muss wirklich los. Zeitdruck, Sie verstehen?« Bevor er von dannen eilte, bedachte er das Personal mit einem extra eindringlichen Blick. Audrette hatte alle Hoffnung sinken lassen, war kurz davor zu kapitulieren, als sie angesprochen wurde.

      »Wenn Sie mir bitte folgen würden, gnädige Frau?« Ein eifriger Page führte sie zu einem Zimmer. Die Formalitäten ließen sich dort über ein modernes Touchpanel erledigen.

      »Das ist ja wunderbar! Sie sind mein Held für heute.« Der Page räusperte sich.

      »Das ist meine Aufgabe, Frau Miller. Die Zufriedenheit all unserer Gäste zu garantieren. Allerdings mit einer Einschränkung. Länger als vier Nächte können wir diese Räumlichkeit nicht zur Verfügung stellen.«

      »Vier Tage? Klasse, das genügt völlig.«

      Nach wenigen Stunden Schlaf, es war beinahe Nacht, schlich sie in bequemer Kleidung aus dem Mayfaire, um die Kamera auf dem Dach gegenüber dem Verlag zu platzieren. Eingeschaltet, ausgerichtet, die Beschattung konnte beginnen.

      Die Aufzeichnung startete, da trat einer der allgegenwärtigen Maschinenbauer aus dem Gebäude. Audrette stieß einen leisen Pfiff aus.

      »Unglaublich. Die Kerle sind überall! Die Welt ist verdammt klein. Hallo, Herr Keilbart.« Könnte der, oder einer der anderen, mit der Angelegenheit ihres Zukünftigen etwas zu schaffen haben? Quatsch, das macht keinen Sinn. Andererseits, ein Ingenieur und ein Verleger zu nachtschlafender Zeit, welchen Sinn ergab das?

      Eine alternde Jungfer in altmodischen, unförmigen Klamotten verabschiedete Keilbart übertrieben höflich. Fast hätte die Frau einen Kniefall auf dem Gehweg hingelegt. Flink spurtete Audrette runter auf die Straße. Doch zu spät, die Olle war schon weg.

      Die Jungfer hatte die vermeintliche Joggerin durch das Fenster beobachtet, wie sie auf dem Gehsteig um Luft rang.

      »Kann ich Ihnen helfen? Ich habe Sie zufällig durch das Fenster gesehen. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser, Teuerste?« Hilfsbereit stellte sie sich als Fräulein Annemarie Seeling vor. Dabei legte sie eine besondere Betonung auf die altertümliche Anredeform und ihre Hände waren überall, an unaussprechlichen Orten, nur nicht wirklich hilfreich. Das Fräulein entpuppte sich als eine unersättliche liebestolle Lesbe. Und jünger als aus der Entfernung angenommen.

      »Danke, nein. Es geht schon wieder«, keuchte die Joggerin.

      »Was machen Sie nur hier draußen um diese Zeit?«

      »Schlaflosigkeit. Dann gehe ich laufen.«

      »Verstehe. Sie sollten sich vorsehen. Es ist gefährlich hier im Dunkeln.« Immer wieder suchten dreiste Finger Erfüllung. Die eher konservative Audrette wurde von Gefühlen dieser Art überrumpelt.

      »Wo wohnen Sie denn? Ich kann Sie hinbringen.«

      »Oh nein. Nicht nötig.« Fräulein Seeling besaß eine generalstabsmäßige Art, ganz so, als wäre jedermann ihr persönliches Besitztum. Wer äußerlich so hart wirkte, musste einen weichen Kern haben, mutmaßte jedenfalls Audrette, schüttelte aber den Kopf.

      »Ich bringe Sie nach Hause! Es macht mir nichts aus.«

      »Das brauchen Sie nicht, ich komme schon klar.«

      »Ich möchte es aber.« Da sie ihre Fälle schwimmen sah, setzte Annemarie alles auf eine Karte und presste mit Leidenschaft ihre Lippen auf die der Fremden. Audrette blieb die Luft weg. Ein strafender Blick, der in der Vergangenheit so manchen Feind erzittern lassen hatte, hatte das Ziel Frau Seeling in ihre Schranken zu weisen, in diesem Fall törnte er nur noch mehr an.

      »Herrgott noch eins! Was ist los mit Ihnen? Sind Sie nicht ganz dicht?« Urplötzlichbrach Audrette in Tränen aus. Bitterliches Weinen nach ihrem geliebten, kranken Ehegatten sollte hoffentlich die Lesbe dazu bewegen, von ihr zu lassen.

      Ach, wie sie ihn vermisste.

      Enttäuscht zog das Fräulein von dannen.

      Audrette schnaufte auf dem Rückweg erst einmal durch. So eine Unverfrorenheit war ihr noch nie untergekommen. Sie war weder ein Mauerblümchen und gewiss kein Kind von Traurigkeit, aber diese Person toppte alles, was sie in ihrer bisherigen Laufbahn erlebt hatte. Ihre frisch entfachte Sexlust hatte unbekannte Dimensionen erreicht.

      Jetzt ein Amos! Sie vermisste ihn tatsächlich. Mit zusammengekniffenen Schenkeln versuchte sie, dagegen anzukämpfen. Jeder Schritt war eine Qual. Im Hotel angekommen, entledigte sie sich ihrer Kleider. Mit dem Vorsatz, eine Dusche würde Linderung verschaffen, schob sie den Duschkopf an den Lustgarten heran, den Strahl auf harte Massage umgestellt. Im Nu stöhnte sie auf. Mit allem hatte sie bei dieser Mission gerechnet, aber dass ihr eine Lesbe, gekleidet wie Großtante Irmgard, zusetzen könnte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.

      Halbwegs befriedigt, aber noch tief in Gedanken versunken, trat sie aus der Dusche, erstarrte erschrocken und fluchte: »Das schlägt doch dem Fass den Boden aus!«

      Die Lesbe hatte auf irgendwelchen verwundenen Pfaden herausgefunden, wo die Amerikanerin nächtigte. Sie stand da, durchtrainiert, ohne ein überflüssiges Härchen am Körper, mit vollen Brüsten und einem Blick der Begehrlichkeit.

      »Das ist ja unglaublich! Sind Sie mir etwa gefolgt? Wie ... Wie kommen Sie hier herein?« Eine Antwort blieb die Frau schuldig und offerierte stattdessen eine ihrer Spezialmassagen.

      »Nettes Angebot, aber ich glaube ich verzichte«, reagierte Audrette angewidert.

      »Ach kommen Sie, nur eine Massage. Die wird Ihnen guttun. Sie sehen ziemlich gestresst aus.« Dagegen gab es nichts einzuwenden, wenn nicht die Frage im Raum stände, warum die Masseuse nackig war.