Axel Schade

Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler


Скачать книгу

bestätigt Friederike das Gesagte und schaut hinaus. In diesem Moment tritt Merle aus einem Zimmer im Gang zu den Aufzügen. Sie winkt Lena zu. Daraufhin klopft sie an die gegenüberliegende Zimmertür, um nach kurzem Warten einzutreten.

      „Was macht ihre Kollegin da?“, erkundigt sich Friederike. „Sie besucht Patienten. Stellt ihnen Fragen.“ „Darf sie das? Ich meine ..., wer hat das erlaubt?“ „Polizeiarbeit. Das geht in Ordnung. Machen sie sich darum keinen Kopf.“ Friederike wirkt verunsichert.

      „Erklären sie, wieso sie trotz dieser exzellenten Aussicht nicht mitbekamen, wie Thilo van der Leuwen sein Zimmer verließ, um im Treppenhaus Suizid zu begehen?“ „Ich, ... ich, ... ich habe null Ahnung!“ „Das wundert mich! Wo sie doch im Nachtdienst die Verantwortung tragen.“ „Ich gucke ja nicht ständig aus dem Fenster.“, reagiert sie aufgewühlt und sucht eine Erklärung. „Womöglich war ich auf der Toilette? Oder in der Teeküche? Vielleicht bei einem Patienten im Zimmer?“ Sie schaut unter sich.

      „Das protokollieren sie? Es lässt sich nachprüfen?“ „Was? Ob ich auf dem Klo war? Nein, das schreibe ich nicht auf.“ „Sie halten aber schriftlich fest, wann und warum sie, bei welchem Kranken im Zimmer waren?“ „Bei einem gesundheitlichen Vorfall notiere ich es in der Patientenakte. Wünscht jemand zum Beispiel ein Getränk, verzeichne ich es nicht.“ Die Krankenschwester spricht sanft. Sie knetet ihre Hände. Es fällt ihr schwer, der Kommissarin ins Gesicht zu sehen.

      „Sind sie im Nachtdienst alleine auf der Station?“ „Ja. Bis auf den diensthabenden Arzt.“ „Wo hält er sich auf? Hier im Dienstzimmer?“ „Nein. Im Arztzimmer.“ Sie zeigt die Richtung. „Vorne bei den Aufzügen. Der erste Raum links. Da steht ein Bett. Geweckt wird der Doktor nur bei Notfällen.“

      „Wer hatte Nachtdienst, wo Thilo van der Leuwen zu Tode kam?“ „Dr. Lütkehuus. Hanne. Sie hatte Rufbereitschaft.“ „Wo sie den Toten entdeckten, riefen sie die Ärztin?“ „Nein. Ich ging zu Herrn Mittler.“ „Warum?“ „Der ist doch Polizist.“ Nervlich angespannt nestelt sie an ihrem Namenschild.

      „In erster Linie ist Herr Mittler Patient und wurde erst Stunden zuvor am Blinddarm operiert.“ „Darüber dachte ich nicht nach. Der Schock, wissen sie? Außerdem war es der kürzere Weg.“ „Wie meinen sie das?“ „Sein Zimmer ist nahe zur Treppe. Das Arztzimmer ist ganz am entgegengesetzten Ende bei den Aufzügen. Das sagte ich doch schon.“

      „Wieso hielten sie sich überhaupt beim Treppenhaus auf Friederike?“ „Ich war am Süßwarenautomaten. Um eine Tüte Gummibärchen zu holen. Da sah ich durch die Glastür das Seil am Geländer. Ich wunderte mich und hab nachgesehen. Da fand ich den Toten.“

      Lena wechselt abrupt das Thema. Diese Gesprächstaktik, schaute sie bei Mittler ab. Mit scheinbar wirr gestellten Fragen erreicht er bei Befragungen beachtliche Erfolge.

      „Ich sehe, sie lagern hier Rollstühle.“ Lena zeigt zur offen stehenden Tür eines Nebenraums. „Ja und andere Sachen.“, antwortet Friederike. „Sie gingen Gummibärchen kaufen, sagen sie?“ „Ja stimmt.“ „Da fiel ihnen das Seil auf?“ „Genau.“ „Sie wunderten sich darüber, schauten nach und sahen den Erhängten?“ „So war es.“ „Anschließend holten sie Herrn Mittler?“ „Richtig!“ „Vorher waren sie nicht mehr hier im Dienstzimmer?“ „Hä? Wann?“ „Nachdem sie den Toten fanden?“ „Nein.“ „Sind sie sicher?“ „Aber natürlich!“ „Woher hatten sie dann den Rollstuhl, mit dem sie Herrn Mittler abholten?“

      Friederike schluckt. Schaut unter sich. Ist still. Lena wartet einen Moment, ob eine Reaktion kommt. Da dies nicht der Fall ist, fragt sie nach.

      „Haben sie dafür eine Erklärung?“ „Wofür?“ „Holten sie den Rollstuhl aus dem Dienstzimmer?“ „Nein. Der stand da.“ „Wo?“ „Bei den Automaten.“ „Warum? Wie kam er dorthin?“ „Keine Ahnung. Manchmal spielen Besucherkinder damit auf dem Gang.“

      „Ist ihre Vorgesetzte häufig so gestresst, wie vorhin?“ „Ab und zu.“, wispert die junge Frau, irritiert durch die verwirrend gestellten Fragen. „Warum ist das so?“, möchte Lena wissen. Zögernd erklärt die Krankenschwester: „Sie hasst es, wenn fremde Leute ins Dienstzimmer reinkommen. Das nervt sie.“ Friederike schaut unter sich, wie ein Schulmädchen, das beim Abschreiben ertappt wurde.

      „Wie kommen sie mit Oberschwester Kill aus?“ „Gut.“ „Sie sind nicht selbst schonmal von ihr genervt?“ Sie hebt den Kopf, sieht Lena direkt an. „Ich? Nein. Wieso?“ Ihr Gesicht zeigt einen verblüfften Ausdruck. Die Frage erscheint ihr offenbar seltsam.

      „Na, kann doch vorkommen? Im Fall, dass ihre Vorgesetzte ihnen mehr auflädt, wie sie schaffen, zum Beispiel?“ „Och nö. Das macht sie nicht.“ Friederike lächelt.

      „Ich stelle mir vor, das Patienten hin und wieder nerven. Ist das so?“ „Manchmal schon. Aber die meisten sind nett.“ „Es kommt also vor?“ ... „Ja.“ „Sie zögern mit ihrer Antwort. Wieso?“ „Ich will nicht schlecht über jemanden reden.“ „Das verstehe ich. Gab es in jüngster Vergangenheit Anlass sich zu ärgern?“

      Die Krankenschwester schiebt Unterlagen auf dem Tisch von einer zur anderen Seite. Dabei vermeidet sie Augenkontakt. Zweifellos trifft die Frage auf nährreichen Boden. Lena bohrt nach.

      „Jemand nervte sie, Friederike?“ „Ja.“, haucht sie bestätigend mit hängendem Kopf. „In jüngster Vergangenheit?“ Einen Moment wartet die Kripobeamtin eine Reaktion ab. Die bleibt aus. „Kürzlich erst?“ Keine Rückmeldung. Lena bringt es auf den Punkt: „War es Thilo van der Leuwen?“

      Friederikes Miene hätte die Kriminalistin gerne im Bild festgehalten. Nichts brächte das Wort „Erwischt“ besser zum Ausdruck. Weil sie schweigt, versucht Lena mit Strenge eine Antwort zu erzwingen. „Reden sie. Was passierte zwischen ihnen und dem Patienten van der Leuwen?“

      Wie ein in die Enge getriebenes Mäuslein hockt die Krankenschwester auf ihrem Bürostuhl. Sie weiß nicht wohin mit den Händen. Letztendlich versenkt sie diese in den Kitteltaschen und nuschelt: „Er fasste mich an.“

      „Nochmal Friederike. Laut und verständlich. Sehen sie mir in die Augen. Was hat er getan?“

      Die junge Frau hebt den Kopf, stammelt zögernd: „Er fasste mich an.“ Bemüht hält sie Augenkontakt, flüstert: „Unsittlich.“

      „Wie, wann und wo?“ „Hier ...,“, wispert sie und führt eine Hand zur Hüfte, haucht: „... am Popo.“ „Dort berührte er sie?“ „Ja genau.“ „Wann war das?“ „Wenn ich in seinem Zimmer war.“ „Es kam mehr wie einmal vor?“ „Ja.“ „Wie oft?“ „Fast immer, sobald ich zu ihm musste.“ „Um was zu tun?“ „Er hatte Wünsche und klingelte.“

      Sie stockt. Lena hilft ihr auf die Sprünge. „Dann gingen sie hin? Um zu fragen, was er möchte?“ „Sicher. Das ist meine Arbeit!“ „Was wollte er zum Beispiel?“ „Er sagte, er sei durstig. Oder behauptete, die Fernbedienung vom TV funktioniere nicht.“ „Verstehe. Wie weiter?“ „Da hab ich es kontrolliert.“ „Okay. Was geschah dann?“ „Wenn ich bei ihm stand, hat er ... über meinen ... Popo ... gestreichelt und komisch geredet.“ „Kapier ich nicht. Was sagte er?“ „Hab ich vergessen!“ „Kommen sie Friederike! Das erinnern sie doch. Raus damit.“

      Sie windet sich auf ihrem Stuhl, schaukelt, wispert: „Er sagte, ich sei ein schönes Mädchen.“ „In Ordnung. Was noch?“ „Er wollte wissen, wie mein Französisch sei.“ „Und?“ „Ich antwortete, ich könnte es nicht. Ich hatte nur Englisch. Er lachte und meinte, in der Schwesterntracht fänd er mich unheimlich toll. Ob ich ihm nicht Gesellschaft leiste ... in der Nacht. Dann würde er ....“ Abrupt verstummt sie, starrt zur Wand.

      „Weiter Friederike.“ „Ich will nicht.“ „Was wollte er?“ „Es ist aber fies.“ „Mir können sie es ruhig sagen. Was würde er?“ „Mit ... mir ... Doktor spielen.“ Kaum hörbar wispernd, spricht sie dies aus.

      „Wiederholen sie das bitte.“ Lena glaubt, nicht richtig zu hören.