Lena und Merle gehen zu Fuß zur Pizzeria Palazzo. „Ich glaube Dennis. Er ist keiner von der Sorte, die einem eiskalt lächelnd ins Gesicht lügen.“, ist Merle überzeugt. „Ich glaube ihm auch.“, antwortet Lena. „Warum hast du dann so einen Druck gemacht? Wir wissen doch noch gar nicht, ob es sich überhaupt um Mord handelt.“ „Ich verlasse mich auf Ronnys Riecher. Wenn er sagt, es ist einer, stimmt es in 99 von 100 Fällen. Das weißt du so gut wie ich.“ „Klar weiß ich das. Aber kriminalistisches Gespür ist keine Beweisgrundlage. Das ist, ... äh, ... Dingens.“ „Sprich dich aus, Merle“ „Jetzt hab ich´s! Ein Bauchgefühl. Mir fiel das Wort nicht ein. Mehr ist es nicht. Ronny ist schließlich nicht der heilige Spekulatius!“ „Hihi. Der ist gut! Muss ich mir merken.“, kichert Lena. „Aber dennoch. Gesetzt den Fall, es war Mord, ist Dennis Jakobs Hauptverdächtiger, bis wir einen anderen ermitteln.“
In der Pizzeria sind alle Tische frei. Sie wählen einen am Fenster, der am weitesten von der Bedientheke entfernt ist. Hier ist eine Unterhaltung möglich, ohne das jeder mitbekommt, worum es geht. Um 13 Uhr 14 betritt eine junge Frau die Pizzeria.
„Das ist sie gewiss.“, vermutet Lena und ruft „Frau Siemers?“ Die Angesprochene tritt an den Tisch. „Ich bin Oberkommissarin Lena Schösteen.“ Sie zeigt ihren Dienstausweis. „Das ist meine Kollegin Kommissarin Merle Jörgisdottir.“ Carola begrüßt die Beamtinnen. „Setzen sie sich. Was möchten sie essen? Ich lade sie ein.“, bietet Lena an. „Hungrig bin ich, bezahlen kann ich aber selber.“ „Worauf haben sie Appetit?“ „Auf jeden Fall Pizza. Die schmeckt im Palazzo sehr lecker.“
„Darf es etwas zu trinken sein?“, erkundigt sich der Kellner, während er Speisekarten austeilt. „Eine Cola Zero bitte.“, ordert Lena. „Für mich das gleiche“, schließt sich Merle an. „Danke, ich brauche keine Speisekarte. Ich bekomme eine Fanta und eine Pizza Spinat.“, bestellt Carola. „Große oder kleine Pizza für die Signorina?“ „Klein bitte.“ „Wird pronto erledigt. Wissen sie schon, was sie nehmen?“ Er schaut Lena an. „Für mich eine große Tonno.“ Merle wählt eine Pizza Calzone.
Nachdem die Bestellung aufgegeben ist, beginnt Carola ungefragt zu erzählen. „Dennis ist total durch den Wind, weil sie ihn verdächtigen.“ „Sie sprachen mit ihm?“ „Nein. Er textete. Er wusste, dass ich eine Arbeit schreibe. Mein Smartphone war aus. Ich las es, als ich auf dem Weg zum Palazzo war.“
Sie hält einen Moment inne, sammelt sich, bevor sie nahezu flüsternd sagt: „Das Thilo tot ist, kann ich noch gar nicht glauben!“ „Sie mochten ihn?“ „Gott bewahre! Nein! Ich konnte ihn nicht ausstehen!“, braust sie auf und schiebt schnell hinterher: „Das er tot ist, finde ich selbstverständlich trotzdem blöd.“
„Seit wann waren sie mit Thilo bekannt?“ „Ich lernte ihn im Gymnasium kennen. Da war ich 11 Jahre alt. Von Jahrgangsstufe 5 bis 8 besuchten wir die gleiche Klasse. Ich ging nach dem ersten Halbjahr der 8 ab zur Realschule. Habe Mittlere Reife gemacht, danach eine Ausbildung zur Bürokauffrau begonnen.“
„Wie war Thilo? Wie charakterisieren sie ihn?“ „Aufdringlich. Penetrant. Widerlich.“, sprudelt sie hervor. „Das fällt ihnen als Erstes ein?“ „Ja. Und noch erheblich mehr.“ „Was wäre das?“ „Meiner Meinung nach, hatte der sie nicht alle!“ Carola zeigt die Vogelgeste. „Irgendetwas in seinem Hirn funktionierte nicht, wie bei anderen Menschen. Ich weiß, man soll nicht schlecht über Tote reden, aber Thilo war speziell! Auf eine ungesunde Art! Er benahm sich schon als Kind wie ein Stalker!“
„Inwiefern? Erläutern sie uns das bitte.“ „Es begann in der 5. Klasse. Kurz nachdem wir uns kennenlernten. Er saß am Nebentisch. Schmachtete mich an. Schenkte mir Kleinigkeiten. Einen Bleistift. Einen Apfel. Eine Schlumpffigur. Kaugummi. So was. Anfangs fand ich es schön und ihn nett. Ich fühlte mich geschmeichelt und hofiert. Sowas kannte ich noch nicht. Es war das erste Mal, das ein Junge sich für mich interessierte.“ „Erwiderten sie seine Gefühle?“ „Ich schwärmte für ihn und schenkte ihm ein Foto von mir. Ab da drehte er durch.“
„Wie sah das aus?“ „Er wurde extrem aufdringlich und verfolgte mich. Suchte ständig meine Nähe. Morgens stand er an der Bushaltestelle, lauerte darauf, dass ich ankam. Er wollte meinen Ranzen tragen. Begleitete mich zum Klassenzimmer. War ich auf dem Mädchenklo, wartete er vor der Tür. Wenn ich sagte, er soll es lassen, nervte er mit dummen Aktionen.“
„Was zum Beispiel?“ „Er schlich sich auf dem Schulhof hinterrücks an, hob meinen Rock hoch, brüllte die Farbe meiner Unterhose.“ „Oh, wie ätzend!“, rutscht es Merle raus. „Manchmal rannte er mich absichtlich um. Oder er umarmte mich von hinten. Dann drückte er zu, bis mir die Luft wegblieb.“
„Sie müssen Angst empfunden haben Carola. Half ihnen niemand? Lehrer oder Schüler?“, möchte Lena wissen. „Mitschüler fürchteten sich vor ihm. Manche deckten ihn.“ „Seine Freunde unterstützten ihn?“ „Richtige Freunde waren es nicht. Eher Kinder, die sich aus Angst oder Berechnung mit Thilo anfreundeten. Damit er sie in Ruhe ließ. Ausgenommen Rollo. Der ist genauso ein Stinkstiefel. Er ist Thilos bester Kumpel.“
„Moment bitte Frau Siemers.“, unterbricht Lena. Sie zückt ihr Notizbuch, um einen Eintrag nachzulesen. „Sprechen sie von Herrn Roolfs?“ „Genau der! Wieso steht der in ihrem Buch?“ „Im Rahmen der Ermittlung nannte uns Frau Andersen seinen Namen.“ „Ach so.“
„Rollo und Thilo also? Wie machten sie ihnen das Leben schwer?“ „Rollo hielt mich fest, damit Thilo mich durchkitzeln konnte. Eigentlich wollte der mich nur befummeln. Ich war für mein Alter ziemlich entwickelt. Die Kitzelei war Vorwand. Das Schlimmste war, er leckte mir durchs Gesicht, am Hals, sogar in den Ohren. Es war absolut ekelhaft.“
„Das glaube ich gern. Es wundert, dass kein Lehrer etwas dagegen unternahm.“ „Rollo und Thilo stellten sich geschickt an, es fiel nicht auf. Sie zogen mich hinter eine Säule oder Wand, ließen es wie ein Kinderspiel aussehen.“ „Sie beschwerten sich nicht bei Lehrern?“ „Dazu fehlte mir der Mut. Thilo schüchterte mich ein. Er sagte, wenn ich ihn verpetze, passiere etwas ganz Schlimmes. Ich hatte riesige Angst.“ „Womit drohte er konkret?“ „Das meine Eltern sterben und ich ins Waisenhaus käme. Unser Haus würde abbrennen. Solche Dinge. Darum traute ich mich nicht, es zu erzählen.“ „Ich vermute, sie litten, weil sie sich allein gelassen fühlten?“ „Ja, es ist, wie sie sagen Frau Schösteen. Irgendwann bekamen Lehrer es endlich mit und bestraften Thilo und Rollo.“ „Hörten die Belästigungen auf?“ „Sie kamen nicht mehr in der Häufigkeit vor. Aufgehört hat es nie.“
„Wie näherte er sich ihnen nach dem Schulwechsel?“ „Bei zufälligen Begegnungen in der Öffentlichkeit. Auf dem Weihnachtsmarkt. Beim Osterfeuer. Auf dem Sportplatz. Am Strand. In einem Geschäft. Bei solchen Gelegenheiten machte er sich an mich ran. Wollte mich einladen. Zu Kaffee und Kuchen. Zum Schwimmen, tanzen, segeln und so. Ich lehnte alles ab. Ich sagte zigmal, er soll mich in Ruhe lassen, ich wolle nichts von ihm. Das ging zu einem Ohr rein, zum anderen wieder raus.“ „Warum zeigten sie ihn nicht an?“ „Ich traute mich nicht.“ „Weswegen?“ „Kennen sie die Familie van der Leuwen? Reiche Leute mit Anwälten sind das. Die hätten mich doch fertig gemacht!“
„Wie lang sind sie mit Dennis zusammen?“ „Vier Jahre und sieben Monate.“ „Wie alt waren sie, wo sie mit ihm zusammenkamen?“ „Ich war fast 15.“ „Wie reagierte Thilo darauf, dass sie liiert sind?“ „Ich weiß, das er schlecht über mich redete. Er setzte Gerüchte in die Welt.“ „Was genau?“ „Er behauptete, ich ginge anschaffen und Dennis sei Zuhälter. Mein Freund beendete das Gerede.“ Merle, die bisher vornehmlich die Rolle der stillen Zuhörerin einnahm, meldet sich mit einer Frage zu Wort: „Wie gelang ihm das?“ „Er stellte Thilo vor seinen Kumpels zur Rede. Er muss ziemlichen Eindruck auf sie gemacht haben. Seitdem war Ruhe.“
„Bei Herrn Jakobs beachtlicher Physis wundert es nicht, dass van der Leuwen unterlegen war.“, vermutet Merle. „Mein Freund ist 1,99 m und betreibt seit Ewigkeiten Kraftsport. Außerdem ist er nicht auf den Kopf gefallen. Der wusste, wie man Thilo Grenzen setzt!“ „Sie sagen das mit Stolz, Frau Siemers,“ bemerkt Lena, „das verstehe