Shino Tenshi

Engel und Dämon


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Bestie war so nah. Er musste nur zuschnappen, dann wäre alles vorbei. Sebastian wäre tot und würde seine Schwester nicht retten können. Er hatte versagt. Oder doch nicht?

      Er spürte wie die Kraft auf der Pranke ein wenig nachließ, wodurch er versuchte seine letzten Energiereserven zu mobilisieren, um sich zu befreien. Doch kaum bewegte er sich einen Zentimeter verlagerte der Wolf sein Gewicht zurück auf seine Pfote und Sebastian spürte, wie sich dessen Klauen in den Stoff und leicht in seine Haut gruben.

      Das Gesicht des Monsters kam näher und der Junge konnte direkt in das giftgrüne Auge sehen, das ihn finster fixierte. Er spürte, wie sich die Angst in seinen Magen vergrub und ihn zu einem schweren Klumpen machte, als er nur trocken schlucken konnte.

      Ja, jetzt war er sich sicher. Er würde hier sterben. Hier auf diesem Waldboden und von dieser Bestie einfach zerfleischt werden. Niemand würde seine Leichen finden. Niemand würde auch nur nach ihm suchen. Denn sie hatten alle Angst. Noch mehr Angst als Sebastian jetzt.

      Der Atem roch widerlich und er war gehetzt und schwerfällig, als hätte die Bestie vor kurzem einen langen Lauf hinter sich gebracht, doch ihr Kampf war dafür eigentlich zu schwach gewesen. Niemals hätte sie so schwer atmen dürfen. Zumindest nicht wegen der kleinen Rangelei. Aber er fand keine Erklärung für diesen unnatürlichen Zustand.

      Vielleicht fiel es ihr einfach wegen dem verkrüppelten Brustkorb generell schwer zu atmen? Wenn er ehrlich war, konnte er nicht einmal verstehen, wie dieses Wesen überhaupt leben konnte. So viele Knochen, wie aus der Haut heraus ragten. Genauso wie die vielen klaffenden Wunden, die schwach vor sich hin bluteten. Das Tier müsste eigentlich irgendwann daran sterben. Aber sie schien nicht eine Sekunde schwächer zu werden. Warum?

      „Du bist es also auch nicht“, durchbrach eine enttäuschte Stimme seine Gedanken. „Wer bin ich nicht?“, hakte Sebastian nach. „Der Auserwählte. Du bist zu schwach. Wenn du nicht einmal gegen mein zweites Ich ankommst, wie willst du ihn dann besiegen?“, erklärte sie es ihm. „Wen denn?“ Er ließ nicht locker.

      „Den Mann in dem Haus“, antwortete sie. „Aber was hat das Ganze mit ihm zu tun?“ Sebastian verstand überhaupt nichts mehr. „Er… Er hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin“, stotterte die Stimme. „Also muss ich zu ihm?“, fragte er weiter. „Ja.“ Die Stimme wurde immer leiser. „Wenn sonst nichts Weiteres dabei ist, dann verlass dich ruhig auf mich. Ich werde das Kind schon schaukeln“, sagte Sebastian siegessicher.

      „Es gibt nur ein Problem“, fügte er nach einer Weile kleinlaut hinzu, „das Vieh auf meiner Brust.“ „Er wird dich nicht gehen lassen bis er mit dir fertig ist. Tja und dann wirst du nicht mehr in der Lage sein zu gehen“, erwiderte die Stimme nur. „Wie meinst du das?“, fragte Sebastian ängstlich und irritiert. Doch es kam keine Antwort.

      Die Stille schürte die Panik in dem Jungen, wodurch sein Blick wieder zu dem Monster auf seiner Brust wanderte. Ein breites Lächeln kam ihm entgegen. Ja, auch diese Kreatur war sich seiner Beute sicher und Sebastian spürte deutlich, dass sie beide Recht hatten. Er war so gut wie tot.

      Erneut kam das Maul der Bestie näher und als er sich sicher war, dass sie ihm jetzt die Kehle durchbeißen würde, hob sie plötzlich ihre Pranke und nahm leicht Abstand zu ihm.

      „Lauf.“ Die Stimme war dunkel und rau. Sie kam direkt aus dem Maul des Wolfes und fuhr Sebastian ohne Umwege ins Gemüt. Er erschauderte und sah nur noch einen Wimpernschlag in das Gesicht seines zukünftigen Mörders, bevor er begriff, was man ihm gerade schenkte: Eine zweite Chance.

      Ohne groß nachzudenken, zog er sich unter dem Monster hervor und rappelte sich auf, bevor er dann zu laufen begann. So schnell er konnte. So weit wie er kam. Es war ihm egal. Er wollte diesem Monster entkommen. Seinem Tod davonlaufen. Und obwohl er sich müde und ausgelaugt fühlte, wurden seine Beine nicht langsamer.

      Im Gegenteil, er wurde sogar schneller als ein Furcht einflößendes Heulen hinter ihm erklang und man schon die schweren Schritte der Bestie vernahm. Sie jagte ihn und würde ihn töten, wenn sie ihn erwischte.

      Ins Dorf. Ja, er wollte ins Dorf. Dort suchte er dann Schutz. Schutz vor dem Unbekannt. Schutz vor dem Tod. Doch er hörte die Schritte von der Bestie hinter sich. Sie wurden immer lauter. Das Laub raschelte unter ihren Bewegungen. Und tief in seinem Inneren konnte er auch das Grinsen auf ihrem Gesicht sehen. Die Schadenfreude, dass sie gesiegt hatte.

      Gesiegt über sein Leben. Seinen Tod konnte sie jetzt bestimmen. Dieses Gefühl beflügelte sie wie jedes Mal wenn sie einen der Dorfbewohner jagte. Ihn all seine Kraft durch eine Hetzjagd nahm. Dann fühlte sie sich wie Gott. Wie der Gott, der sie bestraft hatte. Bestraft für etwas, das kein Unrecht war. Bestraft für das Handeln nach den Zehn Geboten.

      Plötzlich spürte Sebi ihren Hass. Ihre Wut auf die Menschheit. All die Wärme, die er einst gefühlt hatte, war verschwunden. Hinter ihm lief eine Bestie, die geboren war um zu töten. Zu töten was ihren Leben nicht gleich gestellt war. Die Schritte kamen immer näher. Der Tod war sein Verfolger und er wusste, dass es keinen Ausweg mehr für ihn gab. Doch da erblickte er das Licht des Dorfplatzes. Es stieg Hoffnung in ihn auf und er spürte neue Energie in seinem Körper, wodurch er instinktiv noch ein wenig schneller lief.

      Doch die Bestie war schon hinter ihm. Ihren Atem konnte er an seinen Nacken wahrnehmen. Im nächsten Moment spürte er wie sich zwei kräftige Arme um seine Brust legten und wie er hochgehoben wurde. „Du entkommst mir nicht“, hörte er eine Stimme hinter sich, „du bist mein Allein. Dein Leben liegt in meiner Hand. Was wirst du jetzt tun? Um Hilfe schreien? In diesem Dorf sieht und hört niemand mehr etwas wenn die Sonne untergegangen ist. Sie haben Angst. Angst vor dem, was dich gerade bedroht. Sie werden nicht kommen. Niemand wird deinen Tod bemerken. Nicht einmal deine Eltern. Denn sie kamen zu nah an mein Versteck. Und das hat bis jetzt niemand überlebt.“

      Sebi wusste nicht, was es war, doch er hob langsam seinen Blick. Über ihn waren die Baumkronen, die sich dunkel vor dem erleuchteten Himmel abhoben. Es dauerte ein paar Atemzüge bis er in den Blättern etwas erkannte, doch es schauderte ihn: Ein Menschenkopf und daneben ein zweiter.

      Sein Blick wandte sich vor Grauen ab, doch um ihn herum sah es nicht besser aus. Überall lagen Körperteile verstreut. Sie gehörten einen Mann und einer Frau. Erst jetzt roch er die Fäulnis und das Blut in der Luft, wodurch er spürte, wie sich sein Magen umdrehte.

      Wie konnte solch ein Massaker unbemerkt bleiben? Sebastian verstand es nicht, dennoch zwang er sich die Köpfe noch einmal genau anzusehen.

      Es dauerte lange bis seine Augen in der spärlichen Beleuchtung etwas erkannten, doch dann traf es ihn wie ein Blitz: Seine Eltern!

      Sein Körper begann zu zittern und die Farbe wich aus seinem Gesicht, bevor er trocken schluckte. „Vater? Mutter?“

      Seine Stimme war nur ein krächzender Laut und er spürte, wie Tränen in seine Augen krochen, als erneut diese menschliche Präsenz zu ihm sprach: „Es tut mir Leid.“

      So lange hatte sie nun geschwiegen und jetzt wagte sie es erneut zu sprechen. Sebastian konnte diese Unverschämtheit gar nicht fassen, wodurch er spürte, wie sich sein gesamter Körper anspannte und im nächsten Moment begann er wie wild auf das Biest vor sich einzuschlagen. „Was hast du mit ihnen gemacht?! Ich werde dich umbringen! Wo hast du meine Schwester versteckt?! Rück sie sofort raus!“

      Seine Schläge waren unkoordiniert und gingen deswegen oft ins Leere, wodurch Sebastian nach einer Weile schwer atmend auch aufgab und das Lächeln auf den Lippen der Bestie zurückkehrte.

      Dieses selbstgefällige und siegessichere Grinsen, was Sebastian schon den ganzen Kampf über sah und ihm immer wieder unter die Nase rieb, wie schwach er und wie hoffnungslos seine Gegenwehr doch war.

      Aber er war nicht schwach. Er war stark und er würde kämpfen. Solange er lebte, würde er kämpfen. Immer und immer wieder. Dieses Grinsen wollte er ihr aus dem Gesicht schlagen und bevor er diesen Gedanken zu Ende geformt hatte, schnellte seine Faust schon wieder nach vorne und traf.

      Es war ein Kinnhaken. Hart und direkt, wodurch der Kopf der Bestie in den Nacken geschleudert wurde und im nächsten Moment