Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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der Welt ohne Beispiel, sagt Andrew Batson vom Pekinger Analysehaus Gavekal Dragonomics.“ (FAZ 12.3.2020)

       Diese Maßnahme sollte einerseits dafür sorgen, dass nicht Hunderte Millionen gleichzeitig mit Flugzeug, Bahnen und Bussen zu ihren Arbeitsstätten zurückkehrten22, andererseits das Arbeiten in den riesigen, engen Fabriken in der ersten Phase der Pandemie verhindern.

       Entlassungen wurden den betroffenen Staatsbetrieben untersagt. Bei privaten Betrieben, die zu denselben Maßnahmen aufgefordert wurden, galt: Wer in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hatte, aber noch nicht anspruchsberechtigt war, erhielt 6 Monate Arbeitslosengeld23.Es gab einmalige (allerdings nicht sonderlich hohe) staatliche Unterstützungen für Wanderarbeiter, die ein „Kleinst- oder ein Familienunternehmen“ führen. In wieder eröffneten Betrieben sollten massive staatliche Kontrollen bezüglich Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz für Infektionsschutz sorgen; bei Verstößen wurde das Unternehmen unverzüglich stillgelegt.

       Engere Taktung des öffentlichen Nahverkehrs, um mehr Platz und Abstand für die Fahrgäste zu schaffen.

       Gesundheitspolitisch galt flächendeckend Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Überall wurde per Thermoscanner Fieber gemessen, Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt und großzügig zum Einsatz gebracht (Verkehrsmittel etc.).

       Es wurden sehr schnell Massentests durchgeführt, wenn neue Infektionen auftraten: 10 Millionen Tests in Wuhan im Juni 2020 mitmiettl dem Ergebnis, dass 300 symptomlose Infektionen festgestellt wurden; 1 Million in Quingdao nach 8 festgestellten Fällen; 4 Millionen in Kashgar.

       Entwicklung einer Corona-App, die laut DW so funktioniert: „Vor dem Betreten vieler öffentlicher Orte müssen die Chinesen einen Gesundheits-Code auf ihrem Handy vorzeigen. Ein QR-Code in den Farben Grün, Gelb oder Rot gibt Auskunft darüber, ob sich der Handynutzer an Orten mit einem hohen Infektionsrisiko aufgehalten hat oder Kontakt zu einem Infizierten hatte.“24 Weil viele Restaurants und Parks, aber auch Arbeitgeber und Verkehrsbetriebe das Vorzeigen der „grünen“ Ampel verlangen, ist die App faktisch Pflicht geworden, wenn man am öffentlichen Leben teilnehmen will.

       Schließung der chinesischen Grenzen für ausländische Touristen. Geschäftsreisende, die ein Visum bekommen, müssen sich einer 14-tägigen Quarantäne in dafür ausgewiesenen Hotels unterziehen.

      Zusammenfassend lässt sich festhalten:

      Auch in der Volksrepublik setzt die staatliche Führung Gesundheitsmaßnahmen für ihr Volk stets in ein Verhältnis zum Wirtschaftswachstum. Die lokalen Behörden haben auf die ersten Fälle von Covid-19-Infektionen mit Ignoranz und Bagatellisierung reagiert: Eine Krankheit stört das erwünschte Wirtschaftswachstum und die staatliche Erfolgsbilanz. Sobald die pandemische Bedeutung erkannt war, hat die chinesische Führung auf eine konsequente Eindämmungs-Strategie25 gesetzt. „Eindämmungs-Strategie“ bedeutet, dass tatsächlich mit aller Konsequenz versucht wurde, die Zahl der Infizierten auf null zu bringen26. Der Grund dafür liegt einerseits in den Erfahrungen, die China (und die asiatischen Länder) mit den Vorgänger-Epidemien Sars und Mers gemacht hatten; andererseits in der staatlichen Einschätzung, dass ein harter und durchaus kostenintensiver Lockdown (das Wirtschaftswachstum fiel im 1. Quartal auf -7 %, die Exporte in Januar und Februar 2020 auf -24 % bzw. -27 %!) letztlich günstiger ausfallen würde als andere Varianten. In der Folge hat die chinesische Politik alle Mittel angestrengt, die sie zur Verfügung hatte – insofern sind gesundheitspolitische Entscheidungen dieser Art bei Staaten, die im Prinzip alle dasselbe Verhältnis von Volksgesundheit und Wirtschaftswachstum aufmachen, wesentlich eine Frage der jeweiligen nationalen Bedingungen (die ihrerseits zu einem großen Teil auf frühere staatliche Entscheidungen zurückgehen). Zu diesen gehören in China

       ein Gesundheitswesen, das bei allen vorher erwähnten Mängeln durch Privatisierung der Krankenhäuser und der Pharmaindustrie offenbar immerhin viele gut ausgebildete Mediziner und Pflegekräfte hervorgebracht hat; die Fähigkeit, Notfallkrankenhäuser extrem schnell zu bauen/zu organisieren;

       die sofortige Verfügung über Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken (Bestände, die auch auf Basis der Sars- und Mers-Epidemien angelegt worden waren) bzw. die Produktionskapazitäten dafür und für eine große Menge an Testmaterial (z. T. eine positive, aber ungeplante Folge „globaler Arbeitsteilung“ mit der VR China als „Werkbank der Welt“);

       ein zentralstaatlicher Entscheidungsapparat, dem im Großen und Ganzen sowohl die Provinzen gefolgt sind wie die staatlichen Betriebe; gesellschaftliche Organisationen (vor allem solche der Kommunistischen Partei), die wesentliche Funktionen in den Quartieren und im öffentlichen Raum übernommen haben (alle Haushalte aufsuchen, befragen und informieren, Menschen in Quarantäne versorgen);

       ein Volk, das schon vorher ziemlich viel Wert auf seine Gesundheit gelegt hat und dem viele Maßnahmen – bei durchaus vorhandener Kritik an Behörden und Regierung – insgesamt sinnvoll erschienen und das seine Bedenken gegenüber staatlichen Überwachungsmaßnahmen nicht ausgerechnet im Fall einer Pandemie-Bekämpfung geltend gemacht hat.

      Selbstverständlich ist bei all dem staatlicher Zwang (in Form der gesetzlichen Vorschriften und ihrer Durchsetzung beim Lockdown, beim Sperren von Grenzen, bei Quarantäne-Maßnahmen für Einheimische wie Ausländer usw.) festzustellen – qualitativ allerdings nicht anders, als das in westlichen Staaten auch gehandhabt wurde (bei den Ausgangssperren in Spanien, Italien und Frankreich, der Durchsetzung der ab Ende April in Deutschland eingeführten Maskenpflicht, beim Isolieren der Alten in ihren Heimen, im Fall überraschender Grenzschließungen durch einzelne Staaten, bei Polizeieinsätzen gegen feiernde Jugendliche).

      Das kann auch nicht groß verwundern, sind doch in kapitalistischen Ökonomien alle Akteure dem Diktat der Konkurrenz unterworfen, so dass sie ohne staatlichen Zwang kaum Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit bzw. die ihrer Beschäftigten nehmen können. Deshalb muss – insbesondere im Fall von Seuchen – die nötige Vorsicht (eigentlich ein Gebot der Vernunft im Hinblick auf die eigene Gesundheit und die der Mitmenschen) in dieser Art von Gesellschaft tatsächlich mit sanktionsbewehrten Verordnungen gegen alle durchgesetzt werden. Und was die staatliche Datenerfassung über die sogenannte „Gesundheits-App“ betrifft: Es ist kaum anzunehmen, dass China, seine asiatischen Nachbarn ebenso wie die westlichen Staaten bei dem, was sie über ihre Bürger erfahren wollen, ausgerechnet auf eine Pandemie angewiesen sind … Im Unterschied zu den westlichen Ländern fällt auf, wie sehr die chinesische Regierung in vielerlei Hinsicht ihre Bürger dabei unterstützt, gesundheitsbewusst zu handeln bzw. die unangenehm-einschränkenden Seiten der Pandemie-Politik durchzustehen. In westlichen Ländern wurde dagegen von Anfang an betont, dass es in der Eigenverantwortung der Menschen liegt, die Infektionszahlen zu senken, vor allem durch Unterlassen privater Mobilität und Einschränken privater Kontakte. Masken bzw. medizinische Schutzkleidung kostenlos zu verteilen (vgl. die im Januar 2021 gerade laufende Debatte darüber, dass Hartz-Bezieher sich die nun vorgeschriebenen FFP2-Masken nicht leisten können), Aufklärungssendungen über deren korrekte Handhabung, Arztpraxen bei der Trennung von Covid-Behandlungen vom Rest der Fälle zu unterstützen, die Arbeitszeit der Ärzte und Pflegekräfte unter den erschwerten Bedingungen zu senken, Quarantäne-Quartiere einzurichten (z. B. in den Hotels, die schließen mussten), Menschen, die allein leben, alt sind oder selbst nicht klarkommen, ausfindig zu machen und zu versorgen, im öffentlichen Raum und Transportwesen Fieber zu messen – alles sinnvolle und einsehbare Maßnahmen, die übrigens auch nichts mit Einschränkungen von Freiheitsrechten zu tun haben, finden dagegen nicht statt.

      Auf Basis dieser Maßnahmen sind die Corona-Fälle in China massiv eingedämmt worden. China zählt bis heute (31.1.2021) ca. 100.000 Infizierte und unter 5.000 Todesfälle. Würde man die deutschen Zahlen auf die chinesische Bevölkerung hochrechnen, dann hätte China etwa 38 Millionen Infizierte und 960.000 Tote; nähme man die amerikanischen Zahlen, wären es mehr als 100 Millionen Infizierte und 1,7 Millionen Tote.

      Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Verstädterungsgrad bei einer Pandemie eine wichtige Rolle spielt und dieser in China mit 60 % geringer liegt als der in Deutschlands (77 %) und den USA (82 %), sind das