Renate Dr. Dillmann

China – ein Lehrstück


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falsch: „Es gibt sicherlich eine unbekannte Dunkelziffer und nicht öffentlich gemachte Fälle, aber ich glaube nicht, dass wir uns da in den Zehntausenden bewegen. Das wäre bei aller Zensurkapazität nicht möglich. Allein schon wegen der vielen im Ausland lebenden Chinesen mit guten Kontakten ins Land“, berichtet das MERICS-Institut, das ansonsten kaum ein gutes Haar an China lässt. 27 In vielen anderen asiatischen Ländern (Japan, Taiwan, Südkorea, Vietnam, Singapur28) wurden ähnliche Maßnahmen in Kraft gesetzt und ähnliche Erfolge bei der Eindämmung erzielt; es ist allerdings auffällig, wie wenig öffentliches Interesse an Information und Diskussion dieser und insbesondere der chinesischen Erfahrungen im „aufgeklärten“ und „wissensorientierten“ Westen besteht. Einige Mediziner mögen sich über die Grenzen hinweg austauschen; ansonsten aber steht das Urteil über diesen Staat, den man als „systemischen Konkurrenten“ betrachtet, fest: China hat uns das Virus und seine üblen Folgen beschert29; es macht mit berechnenden Hilfsangeboten Politik (Italien, Spanien, Serbien) und bringt damit Unfrieden nach Europa. Von China etwas lernen oder gar übernehmen, das ist unter diesen Vorzeichen natürlich schlicht indiskutabel.30 Der Beijinger FAZ-Korrespondent Mark Siemons bezeichnet das als „Dünkel, der so viele im Westen davon abhielt, in der Pandemie von Ostasien zu lernen“ (FAZ 29.3.2020), der Schweizer Arzt Paul Vogt nennt das westliche, speziell das europäische Verhalten „arrogant, ignorant und besserwisserisch“.31 Es ist dies das Selbstbewusstsein von Staaten und ihren nationalistischen Anhänger_innen, die für sich in Anspruch nehmen, dass ihr ökonomischer und politischer Erfolg in der Welt von Geschäft und Gewalt damit zusammenfällt, dass sie in allen Fragen richtig liegen – in der Herrschaftsausübung, bei den Werten, in der Kultur.

      Indes schwindet die Grundlage für dieses Selbstbewusstsein westlicher Nationalisten etwas: Weltweit sind die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) laut UNCTAD im vergangenen Jahr wegen der ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie um 42 Prozent auf geschätzte 859 Milliarden US-Dollar gefallen. China war 2020 mit 169 Mrd. US-Dollar erstmals das größte Empfängerland für ausländische Direktinvestitionen; davor hatten die USA diese Spitzenposition über Jahrzehnte inne. Dort brachen die FDI um 49 Prozent auf rund 134 Mrd. US-Dollar ein, in Deutschland sogar um 61 Prozent.32 Dass der unangenehme Konkurrent aus Asien mit seiner raschen Bewältigung von Corona der einzige größere Staat ist, der für 2020 ein Wirtschaftswachstum aufzuweisen hat (und damit übrigens deutsche Exporterfolge trotz Krise ermöglicht) und mit seinem für 2021 prognostizierten Wachstum weiter die „Weltkonjunkturlokomotive“ sein wird, wird die Meinung über ihn nicht verbessern – im Gegenteil.

      Das chinesische Sozialkreditsystem

      Zu diesem Thema ist in der deutschen Öffentlichkeit vorwiegend eines zu hören: Dass es sich um neues, digitales und immer perfekteres Instrument der Unterdrückung handelt. „Die totale Kontrolle“ (FAZ), „IT-Diktatur“ bzw. „irres Kontrollsystem“ (BILD), „Orwell“ (SZ) usw. Eine Kommunistische Partei mischt sich, wie es sowieso ihre Art ist, in alle privaten Angelegenheiten ein, trägt noch mehr persönliche Daten zusammen als bisher schon. Sie eröffnet auf der Basis von Big Data, mit einem ausgeklügeltem Punktesystem und neuartigen Sanktionen endlich die Erziehungsdiktatur, die sie schon immer haben wollte. Soweit die feindselige Wahrnehmung, die schnell fertig ist mit ihrer Erklärung. Um was aber geht es bei dieser neuartigen Regierungsmaßnahme?

      Einerseits um gar nicht so viel Neues. Chinas Regierung konstatiert, dass die chinesischen Menschen mit den von ihr erlassenen Gesetzen und Vorschriften ziemlich lax umgehen. Wenn möglich (insbesondere wenn kein staatlicher Aufpasser zu sehen ist) ignorieren sie diese, wo sie ihren eigenen Interessen in die Quere kommen oder ihnen lästig sind. Die Rauchverbotskampagne in Beijing etwa brauchte drei Anläufe, um durchgesetzt zu werden, weil sich bei den beiden ersten trotz angedrohter Geldstrafen kaum irgendjemand daran hielt (was übrigens das Bild von der totalitären Diktatur ebenso wie das des obrigkeitshörigen Asiaten etwas ankratzt).33 Im städtischen Verkehr geht es ziemlich rüde und rücksichtslos zu; im geschäftlichen Umgang gibt es die üblichen Betrügereien, die durch den Online-Handel noch zunehmen – auf Seiten der Verkäufer bezüglich Zuverlässigkeit und Qualität ihrer Produkte ebenso wie auf der der Käufer bezüglich ihrer Zahlungsmoral; nicht wenige Staats- und Parteifunktionäre sind – allen Kampagnen zum Trotz – immer noch korrupt. In dieser Hinsicht handelt es sich also um das alltägliche (und keineswegs nur in China vorkommende) Verhalten, das zu einer Gesellschaft allseitiger Konkurrenz um Geld notwendig dazu gehört – ein Resultat, das die chinesische KP mit der Einführung des Kapitalismus selbst herbeigeführt hat (Teil 2, Kapitel 7). Die massive Entwicklung des Internet-Handels hat dieses Problem noch vergrößert. Schon lange hat es deshalb die entsprechenden Ermahnungen zu mehr Gesetzestreue und Rücksichtnahme gegeben; auch das 2005 noch unter Hu Jintao ausgegebene Leitbild der „harmonischen Gesellschaft“, die man anstrebe, zeugt davon (mehr dazu in Teil 2, Kapitel 9 Politisches Bewusstsein).

      Das neue „Sozialkreditsystem“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es die vielen Daten, die bei verschiedensten Gelegenheiten heute über jeden gesammelt werden (wiederum längst nicht nur in China!) zusammenführt und daraus eine Art Sündenregister verfertigt, dessen (Punkte-)Stand der einzelne durch nachgewiesenes soziales Wohlverhalten auch wieder verbessern kann. Gelingt das dauerhaft nicht, drohen materielle Konsequenzen: Man wird vom Ticketverkauf für Hochgeschwindigkeitszüge oder Flüge ausgeschlossen, die Kreditwürdigkeit herabgestuft. Das alles läuft automatisiert ab – ein Algorithmus rechnet auf Basis der zusammengeführten Daten – und die Ergebnisse sind öffentlich zugänglich: Jeder kann sich über sein Gegenüber und dessen Integrität informieren. Die neue chinesische Maßnahme ist also zunächst einmal eine gesellschaftliche Erziehungskampagne, die erstens den fortgeschrittenen Stand der Technik nutzt und zweitens darauf setzt, dass das allgemeine Bewusstsein von Pflicht und Anstand und schlimmstenfalls die Drohung mit materiellen Konsequenzen Wirkung auf die „schwarzen Schafe“ entfalten wird.

      Soweit dieses System die „kleinen Leute“ und ihre Delikte betrifft, kann man festhalten, dass vieles davon auch bei uns erfasst wird, allerdings von getrennten Behörden (Flensburg) bzw. privaten Datensammlern (Schufa). Auch Fehlverhalten wird hierzulande oft mit ähnlichen Sanktionen belegt (Führerscheinentzug, Herabsetzung der Kreditwürdigkeit mit negativen Konsequenzen beim Mieten oder Kaufen).

      Interessant ist aber, dass Chinas Führung mit dem neuen System auch auf Unternehmen zielt – und mit „Wohlverhalten“ anscheinend auch wesentlich mehr gemeint ist als das bisher Dargestellte34 (statt „Sozialkreditsystem“ wird die Regierungsinitiative deshalb in einigen Analysen auch mit „Gesellschaftliches Bonitätssystem“ übersetzt).

      Zunächst ist bemerkenswert, was bei Unternehmen in die Bewertung einbezogen wird. Bei ihnen wird unter „Einhaltung staatlicher Vorschriften“ aufgezählt: „Sicherheit am Arbeitsplatz/Produktionssicherheit, Steuerzahlungen, Energiesparen/Umweltschutz, geistiges Eigentum“35, auch Einhaltung staatlicher Investitionsvorschriften und Beiträge zu den Sozialversicherungen werden geprüft.

      Die staatliche Kontrolle trägt dabei Daten zusammen, die die Möglichkeit von Falschauskünften minimieren sollen (z.B. durch direkte Messung des Energieverbrauchs oder der Emissionen). Positiv zu Buche schlagen kann für die Unternehmen, wenn sie industriepolitischen Vorgaben in besonderer Weise entsprechen (etwa: E-Mobilität fördern, alternative Energien einsetzen, Recycling), was sich in besonders guten Kreditbedingungen niederschlagen kann.

       „Letztlich könnte das Gesellschaftliche Bonitätssystem zu einem effektiven, Big-Data-gestützten Instrument werden, mit dem das Verhalten von Marktteilnehmern überwacht, bewertet und in eine politisch gewünschte Richtung gelenkt werden kann: Ein Unternehmen, das die für seine Branche gesetzten Investitionsziele für eine neue Technologie nicht erfüllt, wird mit schlechten gesellschaftlichen Bonitätsbewertungen (wie es etwa im Falle der Elektroauto-Quote vorgesehen ist) bestraft. Hierdurch wird das Unternehmen gedrängt, die politischen Ziele einzuhalten und Ressourcen in Technologien zu stecken, in die es – aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht – nicht investieren würde.“ 36

      Die möglichen negativen Konsequenzen für Unternehmen