Stephan Anderson

Stadtflucht


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über der Toilette, stieg auf die Klomuschel und dann auf den Spülkasten. Dann zwängte ich mich bei dem Fenster hinaus“, wimmerte er die Geschichte ein viertes Mal aus sich heraus.

      Das mehr als Guckloch durchgehende Fenster führte zu einen engen Entlüftungsschacht, eines kleinen Miniinnenhofes, mit dem alle Toiletten auf dieser Seite des Zinshauses verbunden waren. Oberhalb des Schachtes konnte man den regnerischen Februarhimmel erblicken, unterhalb sah man eine vermooste Betonplatte, von der aus eine ebenso enge und kleine Türe in den Müllraum führte. Der Befragte schilderte den beiden Ermittlern detailreich, wie er seinen Wohlstandsbauch so lautlos wie möglich aus dem engen Fenster zwängte, welche Angst er hatte den Schacht gut drei Stockwerke tief herunterzurutschen. Ein Fallen war ob der Enge kaum möglich. Trotzdem musste er sich mit Armen und Beinen in den Schacht einklemmen und mittels vermehrter und verminderter Muskelspannung seinen Weg nach unten bahnen. Der auf ihn einprasselnde Regen sowie die rutschige und leicht vermooste Schachtwand machten den Abstieg noch um einiges schwieriger.

      Jakob Rasch hörte gespannt zu und lauschte abermals aufmerksam Aarons Ausführungen, welche Ängste er in diesem engen Schacht hatte. Würde der Schussabgebende ihn gehört haben? Wenn ja, musste er mit Schüssen aus dem Toilettenfenster auf ihn rechnen oder noch schlimmer, der Mörder wartete schon auf der begrünten Betonplatte, am Fuße des Schachtes auf ihn und diese anstrengende Tortur wäre dann auch seine letzte gewesen. Nachfragen stellte der Oberkommissar keine und der genervte Ulman saß wie eine versteinerte, grimmig dreinblickende Statue da.

      Schneller Atem, ein panisches Schreiverlangen, welches ihm im Hals steckte und er unterdrücken musste und eine vollkommende Desillusionierung seiner Gedanken, waren seine hartnäckigen Begleiter bei dem halsbrecherischen Abgang.

      „Als ich unten angekommen war, trat ich voller Panik die kleine verschlossene Holztür zum Müllraum ein. Verstecken konnte ich mich dort nicht, weil alle Müllcontainer auf der Straße standen.“

      Komplett unbeeindruckt von Aarons dramatischer Darstellung seiner Flucht löste Ulman kurz seine hypnotisch-eiserne Mimik, um nachzuhaken: „Und warum war die Klobrille oben?“

      „Was? Ich weiß es nicht!“

      „Und unten angekommen haben Sie dann die Polizei gerufen. Oder? Wenn ja, können Sie gehen!“

      Aaron verstummte kurz und wusste nicht, wie er auf diese Adelung und das Angebot reagieren sollte. Dann war ihm aber klar, dass der böse Bulle ihm nun eine faule Karotte vor sein Eselsmaul hängen wollte, eine trügerische Fangfrage eines ausgefuchsten Ermittlers. So blieb er bei der filmischen Version, die in seinem Kopf ablief: „Nein. Ich versteckte mich unter den dicken Steinstiegen und kauerte mich so gut ich konnte in die letzte Ecke.“

      „Und dann haben Sie den Mörder das Haus verlassen gesehen?“, freute sich Rasch endlich über immanente Hinweise des einzigen Zeugen.

      „Nein. Ich kauerte dort solange in Trance, Panik und unmenschlicher Angst, bis ich die Polizeisirenen auf der Straße hörte. Dann bin ich so schnell wie möglich hinausgelaufen und brach in einen hysterischen Tränengeheul aus, als ich mich hinter dem Polizeiauto versteckte und Ihre Kollegen in das Gebäude liefen“, winselte Aaron bei der Wiedergabe der traumatischen Ereignisse und versuchte immer noch seine Augen in einem rötlichen Tränenmeer darzustellen. Nur es gelang ihm nicht.

      „Wer hat einen Schlüssel für das Gebäude?“, fragte Ulman, der immer mehr aus seiner Passivrolle kam.

      „Wir. Die im Büro arbeiten. Und unser Chef. Und die anderen Bewohner.“

      „Wer arbeitet im Büro. Bitte beschreiben Sie die Personen anhand einer optischen Charakteristik“, bat ihn Rasch anteilnehmend an seiner schlimmen Lage.

      Bis hierher war die Befragung noch nicht gekommen.

      „Christoph Unterkofler, er ist Großkundenbetreuer und Bürochef. Ein dicklicher Mann. Ende vierzig. Er trägt eine Brille. Hat sehr schütteres Haar.“

      Zum Glück fragten die Ermittler den Zeugen nicht nach charakterlichen Eigenschaften seiner Kollegen. Zwar stand Aaron seinem Bürochef in Pessimismus und Misanthropie in nichts nach, doch lebte es dieser noch offenherziger aus. In jeder Mittagspause zückte er die Tageszeitung, nur um die schlechtesten Nachrichten herauszupicken und dem essenden Auditorium lauthals kundzutun. Was man am anderen am Wenigsten mag, mag man an sich am Wenigsten. So lautete ein weises Sprichwort, welches die Beziehung zwischen Aaron und seinem Kollegen bestens beschrieb. Unterkofler wurde nach vierzehn Jahren Ehe von seiner Frau verlassen, nachdem er sich bis über beide Ohren verschuldet hatte, um ein Haus für seine vierköpfige Familie, im Speckgürtel der Großstadt, zu bauen und sich, nach Meinung seiner Frau, während der Bauphase zu stark charakterlich negativ verändert hatte. Ja, er konnte auch nicht hinter dem Berg halten, dass seine Frau die Trennungsaufforderung vom Erzengel Gabriel persönlich erhalten hatte. Keine private Posse war ihm zu peinlich um seine Kollegen damit die Ohren voll zu labern. Zwar regte er sich über die moralische Verwerflichkeit seiner beruflichen Tätigkeit ständig auf, doch er gab der Politik und der liberalen Gesellschaft im Allgemeinen die Schuld dafür, denn man konnte ja von höherer Stelle aus, etwas daran ändern und solche Machenschaften unterbinden. Christoph Unterkofler war an seinen Kredit und seine moralisch-bedenkliche Arbeit gebunden.

      Nein, diese seine Ansichten über seinen zu Tode gekommen Kollegen konnte er der Mordkommission nicht mitteilen. Aber was man an sich selbst am Wenigsten mag, das kreidet man auch zu allererst bei anderen an. So konnte man Aarons Verhältnis zu Christoph Unterkofler analysieren.

      „Okay, das war die Leiche im Eingangsbereich und weiter“, konnte es Ulman kaum erwarten endlich Namen zu den entstellten Opfern zu erfahren.

      „Daniel Blober. Er sitzt mit mir im Innendienst. Groß, dünn, hat einen Spitzbart.“

      „Kennen wir. Auch tot. Weiter!“, nickte der pragmatische Mittsechziger emotionslos, den Namen ab.

      Kurz drang wirklich ein Quantum an Flüssigkeit aus Aarons Tränendrüsen. Daniel Blober soll wirklich tot sein? Gut, auch er hatte seine eigenwillige Art. Überkorrekt, oftmals langsam in seinem Arbeitsablauf und gerne stellte er sich vor dem Firmenchef in den Vordergrund. Zugegeben, er arbeitete auch deutlich mehr als der faule Befragte, der es gewohnt war immer nur das Nötigste zu tun. Und hatte schon Christoph Unterkofler seine positiven Momente, so konnte Aaron, Daniel Blober wirklich einen Freund nennen. Er verstand seine eigenwillige Sicht auf die Welt und diese nörgelnde Anbahnung, ständig in Dauerschleife zu kommunizieren. Aber was von seinem toten Kollegen blieb, war einfach nur die besserwisserische Art, die ermüdende Besonnenheit und sein Drang Unterkofler in seiner Melancholie zu befeuern. Eigentlich berührte dessen Tod Aaron weniger, als er sich einreden wollte.

      „Es tut uns leid, wir wissen das ist alles schlimm für Sie, aber desto mehr Sie uns helfen, desto schneller können wir alles aufklären“, bat der nun in die Fragerunde einstimmende Karrierist den Zeugen nochmals all seine Energie zu sammeln, „wer arbeitet noch dort?“

      „Eigentlich nur noch eine Buchhaltungsdame. Ihr Name ist Maria Kases. Sie hat schulterlange Haare, ist dünn …“

      „Gut, die kennen wir auch“, stellte Sebastian Ulman fest und unterbrach den Zeugen mit Reibbrettstimme und Handwinken.

      Dieser wiederum war nun wirklich wie festgefroren auf seinem abgesessenen Holzstuhl. Das gesamte Bürokollegium war ausgelöscht worden. Nur er hatte überlebt und das, weil er einen Kloschacht hinuntergekrochen war. So sehr ihm die Szenen seiner Flucht nochmals durch den Kopf gingen und die ängstlichen und panischen Gefühle, die er zuvor noch nie in seinem Leben verspüren musste, nochmals hochkamen, drängte sich vorrangig doch die Frage auf, ob er nun in Gefahr war? Würde der Täter nun nach ihm suchen? Und je mehr sich die Gedanken zu seinem Sicherheitszustand in seinem egozentrischen Kopf ansammelten, desto weniger wurden die halbherzigen Mitleidsbekundungen zum Ableben seiner, nun ehemaligen Kollegen. So war Aaron. Seinen Eigensinn sah er in der mangelnden Nächstenliebe und defizitären Solidarität innerhalb der Gesellschaft legitimiert. Samt und sonders war seine Trauerphase über Maria Kases sehr kurzweilig. Sie sprach wenig bis nichts mit ihm, ging nie mit ihren Kollegen Mittagessen, sondern pflegte alleine im kleinen Konferenzsaal zu speisen, nahm