Stephan Anderson

Stadtflucht


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du sie entsorgt, oder?“

      „Aus Herr Kommissar! Verlassen Sie sofort den Raum!“, erwiderte der fassungslose Rasch, peinlich berührt und geistesgegenwärtig, mit flinken Fingern das Tonaufnahmegerät abdrehend.

      Folgeleistend ergriff der cholerische Kommissar seinen Schnellhefter, drosch die Türe hinter sich zu und stürmte zu seiner Schreibtischfestung. Sein Kopf lief nun ebenfalls tiefrot an und seine Lederslipper traten mit vollem Genuss gegen seinen blechernen Papierkorb.

      „Wissen Sie, was wir jetzt machen?“, schlug der, nun die ganze Reputation der Polizei retten wollende Rasch, in deeskalierendem Ton vor, „wir gehen gemeinsam zu meiner Kollegin Krings und holen Ihre Sachen. Sie geben mir die Kontaktdaten Ihres Chefs und wir besprechen wie Sie nach Hause kommen. Okay? Wenn wir noch Fragen hätten melde ich mich bei Ihnen.“

      Nach Hause? Das Schlagwort für den welthassenden Phlegmatiker, der sich beruhigt hatte und seinen überschwänglichen Optimismus, ob dieser Worte, wieder mit schauspielerischem Geschick zu unterdrücken versuchte. Noch hielt seine antiegomanische Membran der durchdrängelnden Selbstverliebtheit stand und mit Nachdruck presste er eine Träne nach der anderen aus seinen Augen.

      „Ich hab doch nichts damit zu tun, warum ist der Herr Kommissar so böse zu mir?“, bohrte er noch, gekonnt in des Oberkommissar Egowunden und untermauerte seine Rolle als liebevollen Überlebenden, der einfach nichts weiß und zu sehr traumatisiert und geschockt war, um mehr zu sagen als das, was er bereits den beiden Ermittlern und dem Diktiergerät verraten hatte.

      Rasch geleitete den schluchzenden Zeugen, der seine nicht schließbare Hose fest vor dem Abrutschen umklammerte, aus dem Verhörraum durch das Großraumbüro, vorbei an der Papierfestung, in Richtung der forensischen Abteilung. Der rasend-böse Kommissar saß auf seinem Schreibtisch und versah den vorbeischlapfenden Aaron nicht nur mit seinem durchdringenden und anschwärzenden Runzelblick, sondern auch mit einem Zuruf, der durch das ganze Großraumbüro des Morddezernats hallte: „Der Teufel sitzt dir in den Augen, ich kriege dich! Ich habe euch alle gekriegt! Ordentlich gefirmt wirst du von mir!“

      Dem gedemütigten Oberkommissar blieb nichts übrig als den Zeugen mit noch schnelleren Schritten an Isabella Krings zu überstellen. Was für eine rufschädigende Blamage für ihn. Als leitender Ermittler zuzulassen, dass eine Vernehmung so außer Kontrolle geriet. Der Karrierist Rasch war sich sicher, das hatte ein Nachspiel bei einer Unterredung mit dem Dezernatsleiter.

      Mit seiner rutschenden Leihhose tat sich Aaron schwer dem Tempo zu folgen. Aber ansonsten empfand er nur Genugtuung. Innerlich strahlte er. Endlich hatte er genügend Überzeugungsarbeit geleistet. Zweieinhalb Stunden Wimmern, Jammern und Weinen hatten ein Ende. Äußerlich rang er sich weiter, die Parzellierung seines archivierten Kummers glaubwürdig dosiert, abzurufen. Keiner würde ihn nun mehr aufhalten Frieden und Ruhe zu finden. Und schon gar nicht mehr die Polizei.

      „Krings, bitte händigen Sie Herrn Röttgers die Sachen aus“, bat der aufgekratzte Rasch die Spurensucherin.

      Er vermittelte dem Kronzeugen das Gefühl, dass er ihn so schnell und so weit weg wie möglich vom Morddezernat schaffen wollte.

      Bis auf seine Kleidungsstücke, welche noch für weitere Untersuchungen in der Gerichtsmedizin verbleiben mussten, konnte er seinen blau-weiß karierten Rucksack, sein Mobiltelefon, seine Geldbörse, seine Ausweiskarten und seine Schlüssel mitnehmen.

      „Auch die Schuhe können wir nicht mitgeben“, stellte Isabella Krings in entschuldigendem Wortlaut klar, „wollen Sie uns nicht zeigen, was Sie in ihrem Rucksack haben?“

      Der sich nun nicht mehr als dringend Tatverdächtiger Betrachtende, sah darin keinerlei Problem und zog freiwillig die Zips der beiden Rucksacktaschen von einer Seite auf die andere.

      „In der hinteren Tasche habe ich Taschentücher, einen Schal und Winterhandschuhe. In der vorderen einen Regenschirmknirps, die heutige Zeitung, ein Plastiksäckchen mit getrockneten Cranberrys und eine Wechselunterhose.“

      „Eine Wechselunterhose?“, fragte die Forensikerin erstaunt.

      „Ja, man weiß ja nie“, grinste Aaron kleinlaut, um sich dann wieder hinter seiner weinerlichen Fassade zu verstecken.

      „Ach Krings, lassen wir den armen Mann doch endlich in Ruhe!“ forderte der unruhige Oberkommissar seine spurensuchende Kollegin auf, ihm endlich seine Sachen auszuhändigen.

      „In der kleinen Vortasche habe ich noch Kopfhörer und feuchtes Reiseklopapier“, legte der Zeuge mit dem unruhigen Darm nach.

      Um das Prozedere endlich beenden und nach dem Abgang des indisponierten Kronzeugen, die Scherben aufräumen zu können, riss Rasch den Rucksack an sich, stocherte mit seiner linken Hand darin herum und warf einige kurzweilige Blicke hinein.

      „Okay, wir verstehen, das ist alles nicht tatrelevant. Damit ist auch das geklärt. Krings, notieren. Durchsucht und nichts gefunden. Bitte geben Sie noch Ihre und die Kontaktnummer Ihres Chefs an. Aja, und die Adresse, wo Sie jetzt hinfahren“, skizzierte der gebürtige Bergländer die weitere Vorgehensweise.

      Währenddessen Krings die benötigten Daten von Aaron aufnahm, späte der ambitionierte Karrierist mit einem scharfen, tief-erzürnten Gesichtsausdruck quer durch das gesamte Großraumbüro auf den Hinterkopf des rauborstigen Kommissars, welcher sich wieder an sein Aktenstudium machte, als wäre nichts passiert.

      „Herr Oberkommissar? Was machen wir mit den fehlenden Schuhen und glauben Sie, der Zeuge holt sich ohne Jacke, bei diesem nasskaltem Wetter, nicht den Tod?“, unterbrach sie, nach getaner Arbeit, ihren Vorgesetzten beim Starren.

      Geistig war Rasch schon in Vorbereitung ein Feuerwerk der Zurechtweisung loszulassen.

      „Was? Aja. Wohin fahren Sie nun Herr Röttgers?“, fragte er ihn, wie ein überfreundlicher Gebrauchtwagenverkäufer seinen einzigen Kunden.

      Lange musste Aaron nicht überlegen. Er wollte einfach weg aus dieser großen Stadt und seiner Einsamkeit und der panikmachenden Angst, der Mörder könnte auch noch ihn aufsuchen und liquidieren.

      „Bahnhof. Nordbahnhof. Ich fahre gleich zu meinem Vetter. Die Adresse haben Sie ja nun.“

      „Wenn eine Streife Sie hinfährt, reichen die Pantoffeln? Und keine Jacke?“, bot ihm der wohlerzogene Akademikersohn den Shuttleservice zum Bahnhof anzunehmen, um weitere Unannehmlichkeiten zu verhindern und war hocherfreut, als der Zeuge nickte.

      „Weiters organisieren wir Ihnen noch Beistand aus dem Notfallpsychologischen Dienst für Traumabewältigung. Es wird sich jemand bei Ihnen melden.“

      „Nein, bitte nicht, ich brauch keinen. Ich brauche niemanden außer Ruhe!“

      Oberkommissar Mag. Jakob Rasch reichte Aaron Röttgers die Hand, entschuldigte sich bei ihm für die Unannehmlichkeiten und verwies ihn an die beiden herbeigeeilten Streifenpolizisten, die ihn zum Bahnhof kutschieren sollten.

      Sowie der Zeuge mit den beiden Beamten, vorbei am Empfang und durch die Milchglastür verschwunden war, richtete er den doppelten Windsorknoten an seiner schwarz-rot gestreiften Seidenkrawatte und stampfte zurück in das Großraumbüro.

      „Magnin!“, rief er eine Kommissarin herbei, „hier die Kontaktdaten des Geschäftsführers. Checken Sie alles über ihn. Er muss kommen. Und hier die Adresse, wo unser Zeuge jetzt hinfährt. Rufen Sie bei der Kreisstadtpolizei an. Die sollen morgen eine Streife vorbeischicken und nach dem Rechten sehen. Und wenn noch Zeit bleibt, fordern Sie psychologische Betreuung für den traumatisierten Mann an.“

      „Ja, Herr Oberkommissar. Und wie geht es dann weiter?“, fragte die junge Kommissarin.

      „Ich weiß es nicht Magnin. Ich weiß es noch nicht. Aber eines weiß ich. Von unseren achtundvierzig Stunden sind schon fast zwölf vergangen. Das werden lange Nächte. Nachdem Sie die Anrufe getätigt haben, trommeln Sie alle zusammen! Ich unterhalte mich einstweilen mit unserem hochdekorierten lahmen Gaul.“

      Kapitel 8 Ab in die Scheiße