Stephan Anderson

Stadtflucht


Скачать книгу

mitgenommen. Doch das Schlimmste war für Aaron, dass sie eine Sonnenliebhaberin war. Nach eigener Aussage konnte es ihr gar nicht heiß genug sein. Sie liebte den Sommer und die brütende Hitze der Großstadt. Leidlich markierte ein Augustdienstag den Abgrund der Beziehung beider Kollegen, als der bezeugende Kaufmann sich aus der Mittagspause kommend, bei 39°C Außentemperatur, in das vermeintlich wohl temperierte Büro zurückschleppte, dort aber aufgerissene Fenster und eine abgeschaltete Klimaanlage vorfand. `Damit die Sonne hereinlachen kann` gab die strickwestentragende Buchhalterin zur Antwort, als sie der desillusionierte Innendienst-Kollege, ob der für ihn frivolen Tat, zur Rede stellte. Und der schwitzende Daniel Blober unterstütze sie noch dabei. Jeder wie er will. Jedem ließ er seine Freiheiten, egal wie absurd und weitreichend. Nein, um Maria Kases, und eigentlich auch um Daniel Blober, war ihm nicht schade. Egal welche Beziehung man zu einem Menschen hatte, sein Ableben war immer tragisch und traurig. Nicht für Aaron. Seine mitmenschliche Sympathieliste gliederte sich rein danach wie sie sein Leben erschwerten oder erleichterten.

      Jakob Rasch merkte, dass der Zeuge sich nun in ein melancholisches Gedankendelirium zurückzog und versuchte ihn weiter auf die, für ihn so anstrenge Fragenbeantwortung, einzuschwören: „Bald ist es vorbei. Was ist mit Ihrem Chef, wo ist der?“

      „Herr Kantyck? Der ist nur zum Quartalsabschluss im Büro. Er wohnt in Liechtenstein und ist zumeist auf Reisen. Von ihm kommen dann immer die Aufträge an Unterkofler, wo wir welche Rohstoffe schnell kaufen sollen und von wem.“

      „Haben Sie Kontaktdaten von ihm?“

      „Ja, die sind in meinem Mobiltelefon. Das haben Sie beschlagnahmt.“

      Der verwunderte Ulman konnte sich, ob der stümperhaften und drucklosen Befragungstechnik seines jungen Vorgesetzten und dem gebotenen Schauspiel des vermeintlichen Kronzeugen nicht mehr zurückhalten.

      „Legen wir die Karten auf den Tisch. Erstens, Sie haben einen Hausschlüssel, zweitens, Sie sind ortskundig, drittens niemand hat jemanden außer Ihnen gesehen und viertens Sie haben ein Motiv!“

      „Motiv?“, schrak Aaron gewarnt und verunsichert auf, „was für ein Motiv? Das ist meine Arbeit, warum sollte ich meine Kollegen töten und meine Einkommensgrundlage zerstören? Ich würde nie jemanden verletzen!“ Zu viele besitzergreifende Fürwörter. Nun riss die Fassade aus Betrübnis und Mitgefühl allmählich.

      „Vier zu Null. Das müssen Sie sich beantworten. Sie haben sich ja schon verraten. Die Eingangstüre war offen als Sie gekommen sind. Nun meinten Sie, während Sie Ihr Geschäft auf der Toilette verrichteten, dass jemand geklingelt hat.“

      „Ja, das stimmt. Vielleicht habe ich die Türe nach dem Kommen geschlossen, ich weiß es nicht mehr.“

      „Wie stehen Sie zu den Geschäften Ihrer Firma?“

      „Neutral.“

      „Vorher sagten Sie schlimm. Gibt es sonst noch jemanden der dem Unternehmen schaden wollen würde?“

      „Nein, wir handeln nur mit internationalen Kunden und haben keinerlei Kundenverkehr. Uns kennt ja eigentlich keiner.“

      „Warum haben Sie Ihre Mutter getötet? Ich kenne Landeier wie Dich. Jetzt willst Du in der großen Stadt deine kranken Gedankenspiele fortsetzen, die du in deinem Bauernkaff begonnen hast. Wie viele Menschen hast du schon umgelegt?“

      Das hat gesessen. Aus dem Nichts. Aufbauend gefragt und dann bumm!

      Der offenliegende Royal Flash des Befragten wurde vom schlechtriechenden Atem des Verhörprofis vom Tisch geweht. Nun wusste er auch, warum das Morddezernat seine Personalien abgelegt hatte. Neun Jahre musste dieser Akteintrag nun alt sein. Genauso lange ist es her, als er schon einmal in so einem Raum einvernommen wurde und zum Tod seiner Mutter befragt wurde. Gut Ding, braucht lang Weile und so konnte die Forschheit des aggressiven aber routiniert-agierenden Fragestellers Aarons Tränendrüsen nun vollends in Bewegung setzen. Seine Augen färbten sich rot, passend zu seinem Gesicht und die salzige Drüsenflüssigkeit aus seinen Augen rannte seine Wangen hinunter, bis sie von seinem kurz geschnittenen Vollbart gestoppt wurde. Was für ein kummervolles Puzzleteil wurde durch den Tod seiner Mutter aus seinem Leben gerissen und auch damals konnte er den Ermittlern nur das sagen, was er Rasch und Ulman nun zu berichten im Stande war. Er wusste von Nichts.

      Nun war es dem autoritätssuchenden Oberkommissar zu viel. Einerseits glitt ihm, als Ranghöherem die Führerschaft in dieser Befragung komplett aus den Händen und andererseits sah er die provokante Fragestellung seines Kollegen als nicht zielführend an. Die steigende Grobheit und Aggressivität des miefenden Mittsechzigers und der zu beobachtende emotionale Verfall des einzigen Zeugen ließen ihm nichts anderes übrig, als zu intervenieren: „Herr Kommissar. Mäßigen Sie sich. Was soll das mit diesem Fall zu tun haben?“

      „Alles. Haben Sie den Akt nicht gelesen?“

      „Meine Mutter nahm damals eine Überdosis Schlaftabletten und schnitt sich in der Badewanne die Pulsadern auf“, machte der jammernde Aaron seinem Herz Luft, um dieses Kapitel so schnell als möglich vom mit Fingerabdrücken bedeckten Fettfilm des kleinen Tisches zu wischen.

      „Sie vergessen aber, dass sowohl Ihr Vater, als auch der Rest Ihrer Familie meinten, Ihre Mutter würde sich nie umbringen und dass Ihr einziger Sohn im Dauerstreit mit ihr lebte. Ja, die Badewanne war voller Blut und Wasser und mittendrin schwamm ein Haar Ihres Unterarms“, merkte Ulman süffisant an und ließ sich, ob seiner breiten Informationslage, selbstherrlich in seinen abgesessenen Stuhl zurücksinken.

      „Aber bitte Herr Kollege. Das war vor neun Jahren sagen Sie? Ich sehe keinerlei Zusammenhang mit dem heutigen Grund unserer Zusammenkunft. Sind Sie verheiratet, haben Sie eine Freundin oder Verwandte? Haben Sie die Möglichkeit irgendwo abseits des Trubels zur Ruhe zu kommen?“

      Alle neurologischen Schleusen waren geöffnet, der Strom an Tränen wollte nicht abreißen und wurde, ob der schlimmen letzten Begebenheit mit seiner Freundin, noch verstärkt. Niemanden hatte er mehr. Er war dort angelangt, wo er immer hinwollte. Aaron Röttger war ganz alleine und hatte nun bald seine Ruhe. Jedenfalls war sie vom Charakter her ein grundverschiedener Typ wie er, doch sie war gütig, rücksichtsvoll und liebte des Couch-Potatos kleine Macken. Trotz alle dem kam es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den beiden. Vor allem die negative Art des passionierten Nörglers zog auch ihr positives Gemüt hinunter und der Umstand, dass ihr Freund kein Wort mit Ihrer mutterähnlichen großen Schwester wechselte, belastete Sie und die Beziehung zusätzlich. Hinzu kam, dass sie, von Beruf Sängerin und Darstellerin kleinerer Musicalrollen, kaum ein Hobby mit ihm teilte. Sie lebten sich über die Jahre in ihrer gemeinsamen sechzig Quadratmeterwohnung auseinander und als Aaron mit Vorschlägen für kleine Schönheitsoperationen an sie herantrat war das Fass zum überlauf gebracht. Nein, der wimmernde Befragte konnte sich auf sie nicht mehr verlassen, seine Jasmin war ihm entglitten. Und nach dem Tod seiner Mutter und dem Umzug seines Vaters nach Australien blieb nur noch einer, der ihm jetzt den nötigen Schutz und Geborgenheit geben konnte: sein Cousin.

      „Ja, mein Vetter. Wir sind wie Brüder. Er wohnt rund eineinhalb Autostunde nordwestlich von hier in einem kleinen Dorf, neben meiner Heimatstadt“, stellte Aaron euphorisch fest und wischte sich die Tränen aus dem roten Gesicht.

      Rasch war erleichtert, dass der Zeuge wieder emotional zu sich kam.

      „Gut. Wir müssen, und bitte, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, eventuell davon ausgehen, dass der Mörder auch Sie oder Ihren Chef verletzen will. Können Sie dort für einige Tage unterkommen und mit uns in Kontakt bleiben? Benötigen Sie Polizeischutz?“

      Bestürzung machte sich im Kronzeugen breit. Nun musste er seine tiefe Angst auch aus dem Mund des freundlichen Oberkommissaren hören: jemand konnte hinter ihm her sein und nach seinem Leben trachten! Der verständnisvolle Ermittler würde ihn sicherlich nicht grundlos oder aus Angstmache anlügen. Sein Herz pochte und pumpte das Blut aus seinem rot angelaufenen Kopf in seine schlotternden Extremitäten. Das war dann zu viel der Seifenoperetten-Darbietung für den abgezockten und routinierten Mittsechziger. Erbost, hintergangen und bloßgestellt fühlte er sich und sprang von seinem überbenutzten Stuhl auf, um durch den ganzen kleinen Raum zu fluchen: „Sind Sie verrückt