Stephan Anderson

Stadtflucht


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ebenso über seine noch heutige Ankunft, freute, wie er selbst, konnte dem Tageshappyend nun nichts mehr im Weg stehen. Ja, er wollte es sogar noch verfeinern und am Bahnhof einen seiner geliebten Fast-Food-Ketten einen Besuch abstatten, um seinen knurrenden und strapazierten Magen zu besänftigen, der sich in der stressabklingenden Phase des Tages, nun mit lautem Brummen meldete.

      Irgendwie schien es, als hätte er, nach dem heutigen Tag, emotional mit der Großstadt abgeschlossen. Seine Freundin war weg, seine Arbeit nicht mehr existent und ein Mörder vermutlich hinter ihm her. Dieses Betonlabyrinth konnte ihm, außer heißen Sommern und Anonymität nichts mehr geben. Nein, sie nahm ihm sogar mehr, als sie einst geben konnte. Die toleranten Abgründe der selbsternannten freien, westlichen Zivilisation bekam er bei jedem Verlassen seiner Wohnung aufgezeigt und so wollte er sich einfach nicht mehr ärgern lassen, denn aus seinem tiefsten Inneren stieg eine Grundzufriedenheit auf, welche sich anfühlte, als sei er neu geboren. Alle Lasten seines bisherigen Lebens schienen von ihm abzufallen und die selbst aufoktroyierenden schlechten Einflüsse seiner Umwelt prallten von ihm ab, wie die immer intensiver auf die Autoscheiben prasselnden Regentropfen.

      Selbst als ihn, die unter Dachvorsprüngen und Vordächer kauernden Passanten anstarrten, während er direkt vor dem Bahnhof aus einem Polizeiauto stieg und im strömenden Winterregen, per Slalomlauf, versuchte seine weißen Schlapfen von Wasserpfützen fernzuhalten und sich dabei bemühte, seinen offenen Hosenbund vom Abrutschen Richtung Knie abzuhalten.

      Ja, es war ihm schlichtweg egal, ob er nun sein geliebtes Fast-Food mit geschwärzten Fingern zu sich nehmen musste und er war für ein Mal in seinem Leben sogar stolz auf die Blicke, die ihm seine Montur einbrachte. Selbstzufrieden schritt er, der Gesundheit feindseligen Witterung zum Trotz, am Bahnsteig entlang, um ganz vorne in den Zug in die Heimat einzusteigen. Vorne, wo kaum jemand saß. Vorne, wo sich niemand der zugfahrenden Pendler die Mühe machte den weiten Weg von sieben Waggons den Bahnsteig abzuschreiten, um gerade dort einzusteigen.

      Mit gekaufter Fahrkarte in seiner Gesäßtasche steckend, einer Papiertragetasche seiner Fast-Food-Lieblingskette in der linken und einen Getränkebecher in der rechten Hand sowie einer strahlenden U-Form auf seinen Lippen, stieg er in den vordersten Waggon des Zugs ein und machte sich auf einen Viererplatz, mit kleinem Tisch in der Mitte, breit.

      Noch hatte er zwanzig Minuten bis zur Abfahrt vor sich. Niemand war weit und breit zu sehen und so packte er ein Feuchttuch aus seinem Rucksack, um sich die Hände zu waschen. Auch dieses vermochte es nicht die schwarzen Farberückstände vollständig von seinen Fingern zu entfernen. Egal. Jetzt war alles egal. Er griff in die große Tragetasche und öffnete das erste Säckchen darin. Dort verbargen sich drei Hamburger, jeweils eingewickelt in Papier. Hastig entkleidete er einen Doppelcheeseburger aus dessen Verpackung und breitete das Papier, als Unterlage, auf dem kleinen Tisch auf. Dann klappte er das zweite Säckchen in der Tragetasche auf und holte eine Schütte Pommes Frites heraus, welche er nun auf der ausgelegten Verpackung ausstreute.

      Biss für Biss, oft Burger gemischt mit Pommes, dann wieder nur ein Bissen Burger, zwischendurch auch drei oder vier Pommes Frites auf einmal ohne Burger, gierte er seine Kehle hinunter. Unterbrochen wurde dieses Kauspektakel nur durch ein tiefes Saugen, am Strohhalm seines Nullkommafünf-Liter-Cola-Light-Bechers.

      Nach dem ersten Burger, folgte der nächste. Nach dem Zweiten der Dritte. Rind, Huhn und Schwein in Laibchen-Form sowie frittierte Kartoffelstifte. Der fertigschmatzende Aaron war zufrieden mit seiner kulinarischen Beute und sank rülpsend und genüsslich in seinen gut-gepolsterten Zugreiseplatz. Die Augen fielen ihm zu und seine Entspannungsphase wandelte sich in ein Delirium namens Halbschlafes um.

      Ungelöster stellte sich der weitere Abendverlauf für den entehrten Sebastian Ulman dar, der in der letzten Ecke seines Stamm-Beisels mit einem großen Bier und sechs Zentiliter Whisky kauerte. Den Spaßbrüdern am Tresen ging er heute aus dem Weg. Keine Schimpftiraden gegen Politiker, keine chauvinistischen Witze und keine sentimentalen Erzählungen von früheren, besseren Zeiten. Still und starr versuchte er den Tag zu verarbeiten und einzuordnen. Ein Bier, ein Gläschen Hochprozentiges und dazu drei bis vier Zigaretten. Für gewöhnlich beschreibt dies jenen Gang, den sich der morbide Mittsechziger mehrfach an so einem Kneipenabend hinter die Binsen kippte.

      Weit weg waren die Spiegelfassaden der Wolkenkratzer, am anderen Ufer des Stroms, der die Metropole wie eine Sekante durchzog. Keine blinkenden, roten Warnleuchten an langen Antennen, die auf den letzten Metern, im steten Wettlauf um den Titel ´höchstes Gebäude des Landes´, ihre metallenen Verlängerungen zum regnerischen Winterhimmel zu strecken versuchten, um das dekadente Spiel für sich zu entscheiden. Immer höher und prächtiger, um jeden Neuankömmling das Gefühl, nun am modernen Puls der Zeit zu leben, zu vermitteln. Jeder rote Wimpernschlag an den Spitzen der imposanten Bauwerke, bezeugte einen taktvollen Warnhinweis an das provinzielle Umland, die großstädtische Überlegenheit an Kapital und Kultur nicht infrage zu stellen. Diesen Globalisierungswettlauf hatten die Einwohner seines Arbeiterviertels schon verloren, bevor er überhaupt begann. Das Trachten nach Prunk und Erlöse aus Immobilen waren ihm fremd. Was für den sentimentalen Mittsechziger zählte, war die Ordnung und die Verteidigung seiner altertümlichen Erinnerungen an seine Heimatstadt, als weder Internet, noch Wolkenkratzer und günstige Arbeitskräfte aus dem kontinentalen Osten seine Heimatstadt heimsuchten.

      Sogleich er seine Gedanken in dunkler Atmosphäre und dichtem Zigarettenrauch dahinschwelgen ließ, malte er sich aus wie er es dem so verhassten Oberkommissar Jakob Rasch heimzahlen und seine Theorie untermauern konnte. Aaron Röttgers war der Täter und alle seine geistigen Anstrengungen, Alternativen zu finden, verliefen im Sand.

      Der routinierte Ulman war sich sicher, Typen wie Aaron zu kennen. Er hatte sie schon oft genug vernommen, durchschaut und schließlich überführt. Keine weiteren Zeugen, keine Möglichkeit Kameraaufnahmen vom Tatgebäude auszuwerten und vor allem keinerlei sichtbare Spuren, die am Tatort hinterlassen wurden, außer Schuhabdrücke. Von der Größe her nicht passende Schuhabrücke. All das konnte ihn nur in diese Ermittlungsrichtung ziehen.

      „Der ärmste Zeuge war es meistens“, erinnerte sich der alternde Ermittler an vorangegangene Fälle und schwelgte dann doch wieder in anderen Zeiten.

      Unter seinem spärlich ausgeleuchteten Bistrotisch war er sich aber über einen Umstand im Klaren, der Schlüssel für diesen Fall war die Tatwaffe oder zumindest das ominöse Pre-Paid-Handy.

      Während Oberkommissar Rasch schon mit seiner Einsatztruppe im Morddezernat die Hintergründe von Opfern, Kunden, Lieferanten und mit jedem, der in den letzten vierundzwanzig Monaten mit dem Unternehmen zu tun hatte, prüfte, raubte sich das einzelgängerische Sozialbaukind lieber selber den Schlaf. Niemals würde er sich von einem Baby-Napoleon, der von hinter seinem Schreibtisch aus, die Befehle gab, herumkommandieren lassen. Als tölpelhaft, blauäugig und infantil sah Ulman seinen Vorgesetzten. Stunden über Stunden Schlaf würde er nun seinen Task-Force-Mitarbeitern rauben. Nur um in alle möglichen Richtungen zu ermitteln und dabei immer nur seine Karriere im Fokus. Dabei war, aus des Kommissars Sicht, alles so einfach. Nachbohren, einengen und überführen. Alle Konzentration auf Aaron Röttgers. Selbst Kleidung mit Blutspritzern oder Schmauchspuren darauf, würden klar auf den Täter zuordenbar sein. Irgendwas würde Weiss noch finden. Lieber wartete der zechende Modellbauer den Endbericht der Forensik hier ab, als wie ein aufgescheuchtes Huhn seine Zeit zu verplempern und falschen Hinweisen nachzugehen.

      Man hatte ja alle Informationen vom Kronzeugen. Er musste nun nur noch den Elfmeter versenken. Wo hätte der Täter denn sonst diese Dinge verschwinden lassen sollen, wenn nicht im abzuholenden Müll? Oder war es vielleicht doch ein Profi? Jemand, der seine Sache schnell abhandelte, mit einem Schalldämpfer die Bürobelegschaft lautlos niederstreckte und unauffällig wieder verschwand? Jedem Angestellten einige Stücke Gewebe, als Zeichen der Bestrafung für ihre dubiosen Geschäfte mit Lebensmittelspekulationen, entnommen? Aber wo wäre das Bekenntnis dazu? Kein Verrückter plante so etwas und wollte dann keinerlei Nachricht für die Welt hinterlassen. Der erfahrene Ulman war hin- und hergerissen und beim vierten Gang angekommen, war es ihm zu bunt. Mit einem Schluck würgte er den restlichen Whisky und goss sich das halbvolle Bier ohne Absetzen die Kehle hinunter. Die neunzehnte Zigarette an diesem Abend im Mundwinkel hängend, erhob er sich von seinem Stammplatz in der hintersten und dunkelsten Ecke des