Stephan Anderson

Stadtflucht


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zu lesen.

      „Ulman in mein Büro!“

      Das Murmeln und Tastaturgeklapper, ja selbst das Telefongeläut, verstummte für einen Moment. Alle Aufmerksamkeit war auf den alternden Kommissar Sebastian Ulman in seiner vermüllten Papierstapelburg und auf den bergländischen Karrieristen, der an sich durch seine Besonnenheit bekannt war, gelenkt.

      Laut stapften die braun-melierten Schlangenlederschuhe über die anthrazitfarbenen Fliesen, durch die Schreibtischgasse der großzügigen Amtsräume entlang und verschwanden hinter der Milchglastür seines Büros. Und während das tobende Schauspiel noch immer jegliche Zuwendung der Beamtenschaft auf sich zog, erhob sich der uneinsichtige Mittsechziger aus seinem ausrangierten Ledersessel, der die gleichen Dienstjahre wie er auf dem Buckel zu haben schien und bewegte sich langsam und zögerlich seinem jungen Vorgesetzten zu folgen.

      Vor dem großen eichenen Schreibtisch nahm er, in einem der beiden eleganten weißen Ledersessel Platz und betrachtete die Urkunden, Diplome sowie Pokale und Medaillen, welche die Wand vor ihm schmückten und dem Nutzer dieses Arbeitsplatzes, wie in einem fürstlichen Thronsaal erscheinen ließen.

      Rasch sank in seinen dick gepolsterten und ergonomisch geformten Drehstuhl und durch seine gut gebaute und durchtrainierte Statur kamen die Beurkundungen seiner akademischen Leistungen und sportlichen Erfolge, an der Trophäenwand hinter ihm, noch mehr zur Geltung. Es war, als würde der kleinlaute Ulman gegen ein Meer von Spiegeln und Lichtreflektoren blicken.

      Inmitten dieses einschüchternden Prunkspektakels sammelte die einnehmende Gestalt des frisch rasierten, die Frisur perfekt sitzenden und bestens gekleideten Oberkommissar Mag. Jakob Rasch, dessen muskulöser Oberkörper nun begann sich aufzuplustern, seine Wut.

      „Was soll das für ein Auftritt sein? Sie schüchtern Zeugen ein. Nein, Opfer. Dieser Mann ist knapp dem Tod entronnen und steht unter Schock. Derzeit werden wir nicht mehr von ihm erfahren, als er uns gesagt hat! Mehr weiß er auch nicht.“

      Dem, mit allen Wassern der Gosse gewaschenen Kommissar, konnte die klar, mit körperlicher Präsenz und lukullischem Ambiente untermauerte Ansage seines Vorgesetzten nicht imponieren. Im Gegenteil er beharrte auf seinen Ansichten.

      „Herr Magister. Fakt eins: der Täter ist jemand mit Ortskenntnis. Schlüssel für das Haus und das Bewusstsein, dass er alle Zeit der Welt für seine Tat hatte. Wie unser, nennen wir ihn einmal Zeuge. Fakt zwei: Den Opfern wurden Stücke ihrer Haut entfernt, das lässt darauf schließen, dass der Täter die Opfer persönlich gekannt hatte und ihnen etwas wegnehmen wollte, dass sie öffentlich brandmarkt. Das alles war gründlich, der Täter ist ein Serienmörder und Trophäenjäger. Er wollte die Opfer nicht übermäßig töten, sondern wusste genau was er wollte. Willkürlich aus den Körpern geschnitten. Fein säuberlich. Mit Trophäen kennen Sie sich ja aus.“

      „Und warum soll das der Zeuge gewesen sein?“

      „Fakt drei: Ich habe es in seinen Augen gesehen. In ihm steckt der Teufel. Darum habe ich gleich seine Akte überprüft. Ich brauchte nur eine halbe Stunde Aktenstudium und habe einen neun Jahre alten Fall gelöst. Sind hier alle so blind?“

      „Was haben Sie gelöst Ulman? Sagen Sie es mir.“

      „Man fand im Blut der Mutter eine Überdosis Benzodiazepine. Nun benötigt man, ich denke das ist am Land genauso wie hier, ein ärztliches Rezept dafür. Dieses wurde nie ausgestellt. Woher die Schlaftabletten kamen ist bis heute ein Rätsel.

      „Und weiter“, gab ihm der unbeeindruckte Oberkommissar die Chance, seine Ausführungen weiter auszuschmücken, während er in seinem ledernen Lehnsessel lehnte und einen Tennisball zwischen seinen Händen pendeln ließ. Für Rasch war jeder Ansatz relevant. Hauptsache dieser Fall war bald geklärt.

      „Scheinbar ist unser Mann damals bei unseren ländlichen Ermittlerkollegen, die halbtags Schweine züchten und nebenbei versuchen Mordfälle zu lösen, durchgekommen. Aber nicht hier.“

      „Ulman! Sie schaffen das alleine nicht. Achtundvierzig Stunden sind die Grenze für die höchste Aufklärungschance und zwölf haben Sie schon verplempert. Ein Einsatzteam muss her. Alle Opfer durchleuchten. Das schaffen Sie nicht alleine“, schloss er mit doppelter `L´-Rollung über seiner Zunge ab.

      „Warten Sie Herr Magister, es geht noch weiter. Unser, nennen wir ihn eben weiterhin noch Zeuge, hatte seit Jahren ein streitbares Verhältnis zu seinen Eltern. Darum ist er drei Jahre vor dem Tod der Mutter zu seinem Großvater gezogen. Wie kommt dann ein Oberarmhaar von ihm in die Badewanne voller Blut? Dort wo, die Leiche seiner Mutter gelegen hat?“

      „Sie meinen die Frau schluckte eine Überdosis Schlaftabletten, lässt sich ein Bad ein und schneidet sich die Pulsadern auf. Und weil ein Haar ihres Sohnes darin ist, denken Sie er sei unser Mann? Vor welchem Gericht soll das halten?“

      „Der Großvater stirbt ein Jahr vor dem Mord an der Mutter. Unser Zeuge lebt mit seinem Cousin gemeinsam im Haus des Großvaters. Die Mutter erbt es vom Verstorbenen und gibt es dann dem Cousin weiter. Der Sohn schaut durch die Finger.“

      „Das soll sein Motiv gewesen sein?“

      „Jeder Befragte gab damals an, dass ein Selbstmord lächerlich sei und ihr Sohn den teuflischen Charakter hätte so etwas zu tun. Sogar der Vater sagte das aus und nachdem die Todesursache als Selbstmord deklariert wurde, zog dieser nach Australien. Er flüchtete, sage ich.“

      „So diabolisch kam mir der Zeuge heute gar nicht vor“, lachte Rasch, „wie ist die Sachlage bei unserem Fall? Keine Schmauchspuren, damit scheidet er als Schütze aus.“

      „Kennen Sie diese schwarzen Latexdinger? Handschuhe nennen die sich“, fragte der, sich nicht ernst genommene Ulman süffisant.

      „Herr Kommissar, dann wären auf der Kleidung Spuren. Außerdem besitzt der Zeuge weder einen Waffenschein, noch eine Waffe. Ich schätze ihn auch nicht so ein, dass er sich eine am Schwarzmarkt besorgen könnte.“

      „Das sagen Sie. Meine These: Er flippt aus, egal warum. Fährt in die Arbeit, mit der Gewissheit, dass alle Wohnungen in dem Zinshaus unter der Woche leer sind. Alles geplant. Niemand stört ihn, er hat Zeit. Er knallt seine Kollegen ab, weiß genau, wo er wen vor Ort und Stelle vorfindet und entnimmt seine Trophäen aus der Haut der Opfer …“

      „Bitte, Herr Kommissar“, forderte der belustigte Bergländer einen Sinn zur Realität ein.

      „Dann sammelt er die Patronenhülsen ein, Riss die Projektile aus der Wand, wechselte die Kleidung, kackt ins Klo und entsorgt alles Unliebsame im Restmüllcontainer vor dem Haus. Im Wissen, dass diese jede Minute abgeholt und entsorgt werden. Dann rief er, mit englischem Akzent, mit so einem, wie sagt man? ´Pri-Handi´, dass er dann später auch entsorgte, die Polizei an und kauerte sich unter die Stiegen, bis die Beamten eintrafen.“

      „Wo sind die Trophäen?“

      „Ich weiß es nicht. Aber Waffe, Projektile, Hülsen, Mobiltelefon und dekontaminierte Kleidung in der Müllverbrennungsanlage.“

      „Wenn Ihre wahnwitzige Theorie stimmt, sind diese Beweismittel damit ohnehin verloren. Es ist neunzehn Uhr dreiundvierzig und alles verbannt.“

      „Nein, der heutige Müll rund um den Tatort ist gesichert und wird von einem Heer an Spurensichern gerade durchforstet. Da fällt Ihnen der Suppenschlitz auseinander, oder?“, griente der vorlaute Mittsechziger, in Erwartung eines bestätigendes Lobes.

      Wahrlich konnte Oberkommissar Rasch vor Erstaunen seine Lippen nicht mehr geschlossen halten und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von amüsiert in ungläubig-erstaunt. Kurz musste er sich fassen, um sein Gegenüber nicht mit dem Tennisball zu bombardieren und seine nächsten Worte gewillt und höflich zu formulieren. Da klopfte es an der Milchglastüre und Dr. Peter Weiss trat, ohne Hereinbitten des Büroinhabers, ein. Seine vormittägliche Tatort-Adjustierung, Einweg-Overall, Überziehschuhe und schwarze Plastikhandschuhe wichen einem weißen langen Labormantel und einer lila-rosa gestreiften Krawatte, ganz seinem Rang, als oberster Forensiker der Hauptstadt, angemessen.

      „Bitte entschuldigen Sie Herr Magister