Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


Скачать книгу

nicht, unschuldige Menschen zu töten.«

      »Aus abendländischer Sicht«, flüstert Arsinoë kalt, »aber im Morgenland ticken die Uhren anders. Was außer Gewalt bleibt, wenn die hohe Politik versagt, Generationen mit Hass im Herzen geboren und zum Kampf erzogen werden?«

      »Es gibt bei uns viele Menschen, denen die angloamerikanische Politik ein Dorn im Auge ist. Katee und ich sind für den Frieden im Nahen Osten auf die Straße gegangen, wir haben demonstriert und Unterschriften gesammelt.«

      Arsinoë kichert hysterisch, klatscht begeistert und schneidet mir den Satz ab.

      »Wow. Ihr habt demonstriert. Zettelchen bekritzelt. Flattern sie noch am Parlamentszaun, oder wurden sie bereits in die Altpapiertonne geworfen? Wenn ihr Glück hattet, wurden sie gezählt oder gelesen. Vielleicht wurde ein Ausschuss gebildet, und man hat sich hinter verschlossenen Türen bei Champagner und Kaviar über euch totgelacht. Merke dir eines: Die hohe Politik interessiert sich nicht für das, was ihr Volk braucht oder wünscht.«

      »Kein System ist perfekt. Seinen Willen friedlich zu bekunden, ist aber besser, als Bomben zu legen und Tausende in die Luft zu sprengen, oder nicht?«

      Arsinoës grüne Augen fixieren mich.

      »Du wiederholst dich. Darf ich dich an Japan erinnern, an Hiroshima und Nagasaki? Frage Ayumi Toshiko, wie sie zu diesem Thema steht, und wenn du Glück hast, serviert sie dir einen grünen Tee, ohne dir den Schädel einzuschlagen.«

      »Wer bitte ist Ayumi, wie war gleich ihr Name?«

      »Nimmt man die letzten Jahre, relativieren sich die Massaker von Stonehenge und New York. Die westliche Welt hat ohne Rücksicht auf Verluste in Korea, Vietnam und am Arabischen Golf gewütet. Teile der Philippinen und Thailands wurden zu Bordellen degradiert, um die selbsternannten Weltpolizisten bei Laune zu halten. Niemand auf dieser Welt ist frei von Schuld, richtig. Aber statt eure eigenen Versäumnisse in Frage zu stellen, sich als eine einzige Spezies zu begreifen, verdrängt ihr eure Taten. Ihr seid wie die Vampire aus euren Legenden. Wesen, die ihre unheilige Existenz den Bedürfnissen ihrer Opfer überordnen.«

      »Kommst du jetzt mit Karl Marx?«

      Arsinoë zögert eine Sekunde, lächelt und setzt ihre Rede fort.

      »Eure Konflikte lassen sich auf den Kern eurer Fehlentwicklung zurückverfolgen. Drastisch gesagt, es ist uns egal, ob ihr euch gegenseitig ausrottet oder den Hintern vergoldet. Aber mit der Entdeckung der Atomkraft und dem Start eurer ersten, wenn auch primitiven Raumschiffe seid ihr theoretisch in der Lage, andere Welten zu erreichen, eure Konflikte in die Galaxis zu tragen. Das zu unterbinden, ist unsere Aufgabe. Nicht mehr, nicht weniger.«

      »Heißt das, dass der Rat jegliches Massaker auf Erden tolerieren würde, solange wir andere Völker in Ruhe ließen?«

      »Richtig. Es ist Teil der evolutionären Reife einzusehen, dass Frieden aus dem Herzen kommen muss. Konflikte sind nur durch Kompromisse überwindbar. Falls am Ende ein Volk sich vernichtet hat oder von uns vernichtet wurde, ist dies ein Teil ihrer Entwicklung gewesen. Spar dir deinen Spott, ich lese ihn eh in deinen Gedanken.«

      Na klasse, eine Gedankenschnüfflerin. Fragt sich, warum man mich gefoltert hat statt mich gleich Arsinoë zu überstellen.

      »Mit anderen Worten, rotten wir uns aus, ist das bedauerlich, kosmisch gesehen aber okay. Bedrohen wir Alpha Centauri, bekommen wir die Quittung, richtig?«

      Arsinoë nickt: »Ein Angriff auf die Candela würde eure sofortige Vernichtung zur Folge haben, korrekt!«

      Auf Alpha Centauri gibt es Leben? Für einen Moment bereue ich, nicht die Wega oder Sirius ins Spiel gebracht zu haben.

      »Woher nehmt ihr euch das Recht, Völker auszulöschen, weil sie es nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen?«

      »Weil die im Rat vertretenen Völker ihre Zwistigkeiten zugunsten einer galaktischen Allianz überwunden haben. Das Überleben der Galaxis ist wichtiger, als das Wohl einer einzelnen, streitbaren Spezies.«

      »Bei allem Respekt, ich sehe darin keinen Unterschied zu unserem eigenen Verhalten. Wer nicht ins Kartenhaus passt, wird bekämpft.«

      »Moment! Es geht nicht um passen oder mögen. Nur, ob eine Spezies eine Bedrohung darstellen kann.«

      »Und je nach Definition des Wortes Bedrohung sprechen im Anschluss die Waffen?« Arsinoë kneift die Lippen zusammen und blinzelt mit ihren Lidern. Sie sondiert meine Gedanken. »Raus aus meinem Kopf, bitte!«

      »Entschuldigung. Jetzt verstehe ich dein Problem. Du unterstellst uns, Willkür walten zu lassen. Lerne, dass wir den Begriff Bedrohung nicht nach Lust und Laune interpretieren.«

      »Nicht?«

      »Der Eskalationsvektor wird durch den Kodex vorgegeben. Eine uralte Charta über das Leben und dessen Wechselbeziehung zum Kosmos.«

      »Und wer hat den Kodex verabschiedet? Die Schweizer?«

      »Der Kodex ist die generative Fortschreibung von Ethik, Moral, Philosophie und Wissenschaft aller im Rat vertretenen Völker. Das Bundesland Schweiz wird niemals dem Rat beitreten können, nur die Menschheit als Ganzes.«

      Arsinoë hat den Gag nicht verstanden. Ich seufze leise und sehne mich nach einem Ricola aus den Schweizer Bergen. Das Thema ist mir zu trocken.

      »Darf man fragen, wie der Rat den Begriff einer Bedrohung definiert?«

      »Ich gebe dir ein Beispiel: Im Bundesland Deutschland wird das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin als Bedrohung für die abendländischen, christlichen Werte empfunden. Umgekehrt ist man verärgert, wenn deutsche Touristen im Bundesland Saudi-Arabien abgestraft werden, weil sie mit Christusketten das religiöse Gefühl der dortigen Muslime mit Füßen treten. Oder in Europa mit christlichem Glockengeläut akustische Verschmutzung betrieben wird, während man den Muezzin auf den Minaretten vorschreibt, ob und wie laut sie zum Gebet rufen dürfen. Nein, Thomas Kyle Jennings! Diese Art von scheinheiliger Willkür wirst du bei uns vergeblich suchen. Der Begriff der Bedrohung und der Umgang mit ihr ist seit Jahrmillionen im Kodex definiert und gilt für alle und jeden.«

      »Amen!« Arsinoës Argumentation reduziert uns auf unseren hässlichen, mit netten Klamotten, sauberen Nägeln, duftendem Parfüm und etikettierten Floskeln verhüllten, animalischen Kern.

      »Das griechische ,So sei es‘ ist eine zutreffende Bemerkung und charakterisiert den Kodex perfekt. Nur weil vieles auf der Erde nicht funktioniert, muss das noch lange nicht heißen, dass eine pangalaktische Zusammenarbeit, Frieden und Völkerverständigung unmöglich ist. Wir haben gelernt, unsere eigenen Bedürfnisse zugunsten höherer, echter Ideale zurückzustellen. Glaube mir bitte, wir sind daran interessiert, euch als unsere kosmischen Brüder und Schwestern willkommen zu heißen. Wir möchten, dass ihr euren historischen Platz im Rat einnehmen könnt. Wir wären nicht hier, wenn euer Schicksal uns gleichgültig wäre.«

      »Wenn dem so ist: Warum nehmt ihr nicht Einfluss auf unsere Politik und Wirtschaft statt irgendwelche Massaker zu billigen?«

      »Wer sagt, dass wir das nicht tun? Die Schattenregierung steuert alle Prozesse der Erde. Es wird Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, bis das von euch gewebte Netz aus Intrigen, Kriegen und Versäumnissen entwirrt ist und die Erde wieder der Menschheit überlassen werden kann. Leider stoßen wir bei unserer Arbeit auf Verknotungen, die mit dem Skalpell gelöst werden müssen. Ein planetarer, chirurgischer Eingriff, der Millionen von Leben kosten darf und wird. Fakt ist, dass ihr noch nicht reif seid, dass sich eine außerirdische Macht offen auf der Erde präsentieren könnte. Euch stört es doch schon, wenn sich zwei Männer küssen.«

      Es tut weh, aber Arsinoë hat recht. Für eine Landung vor dem Weißen Haus oder vor dem Kreml ist es zu früh.

      »Vielleicht verstehst du, warum Folter in deinem Fall ein legitimes Mittel war. Natürlich können wir uns die Antworten ohne Gewalt holen. Ein Blick von Eichendorff oder von mir in eure Gedanken reicht und wir wissen, ob ein Gast die Wahrheit sagt.«

      »Ich habe Ny'Chelle