Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


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wir uns verstehen: Das AntiNy verhindert, dass du vor Schmerz ohnmächtig wirst.«

      Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich die Bedeutung ihrer Worte verarbeitet habe. Mein Daumen befindet sich bereits in ihrer Klaue.

      »Da war nichts. Ich schwöre! Ich dachte, wir wären tot. Oder tödlich verletzt, im Koma, Sie ein Engel. Was weiß ich?«

      Zu meiner Überraschung lässt Ny'Chelle meinen Daumen los und beginnt nervös im Kreis zu laufen. Bei jeder Runde verschwindet sie für einen kurzen Moment hinter mir. Ich habe panische Angst, sie könnte mich von hinten durchbohren, mir das Genick brechen oder meine Eier abreißen. Plötzlich spüre ich den Druck ihrer Reißzähne an meiner linken Halsschlagader. Ich halte die Luft an, warte auf den tödlichen Biss.

      »Ich glaube dir«, wispert sie und ich fühle, wie ihre Zunge über meinen Hals in mein Ohr wandert. »Machen wir weiter, ja? Deine Erinnerung endet mit der Zündung des nuklearen Sprengkopfes. Und du weißt nicht, wo du bist? Korrekt?«

      »Ich habe keinen blassen Schimmer.« Ich zittere. »Wie kann es sein, dass ich eine Atombombenexplosion überlebt habe? Sagen Sie es mir. Vielleicht hilft das, mich zu erinnern.«

      »Warum nicht?«, sagt Ny'Chelle und setzt ihre Wanderung fort. »Im Moment der nuklearen Explosion hat sich das energetische Potenzial von Stonehenge mit dem unserer Basis überlappt. Du befindest dich nach wie vor in der Region um Stonehenge, jedoch nicht in deiner gewohnten Umgebung, sondern in Morgiana's Lair. Das muss dir genügen.«

      Morgiana's Lair? Eine Eisschicht legt sich um mein Herz und presst es zusammen. Ich habe gehofft, einen Hinweis auf meine Lage zu bekommen, irgendetwas, stattdessen ist das Rätsel noch größer geworden. Ich schüttele hilflos den Kopf.

      »Das dachte ich mir«, nickt Ny'Chelle verständnisvoll. »Machen wir Schluss, okay? Gib mir das Passwort, und ich erlöse dich von deinen Schmerzen.«

      Meine Hand ist gebrochen, mein Leben gelaufen. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Bereitwillig spreize ich den Daumen ab und biete ihn meiner Kerkermeisterin an. »Ich weiß nichts von einem Passwort.« Ich schließe die Augen und warte auf die erneute Explosion in meinem Kopf.

      »Bewundernswert.«

      Ich zermartere mir das Gehirn. Als Computerfreak bin ich im Internet nicht immer mit legalen Tools unterwegs, lade mir runter, was das Uni-Modem hergibt. Aber Passworte hacken? Nein, ich respektiere die Privatsphäre anderer Leute.

      »Haben Sie ein Zugriffsprotokoll, ein Logfile? Falls ja, bin ich gerne bereit, nach Ihrem Passwort zu suchen.«

      Ny'Chelle verzieht verächtlich die Lippen. »Wie du willst«, sagt sie und rollt einen kleinen Beistellwagen in mein Blickfeld.

      Auf ihm liegt ein mit schwarzen Tüchern verhüllter Gegenstand. Ein letzter fragender Blick in meine Richtung, und Ny'Chelle entfernt die Tücher vom Wagen. Katees längs gespaltener Schädel samt seinen fein präparierten Hirnhälften und der silbernen Kugel zwischen Groß- und Kleinhirn tanzen vor meinen Augen. Kurz drifte ich weg und wieder zurück. Mein Mund schäumt, der Anfall kämpft um die Kontrolle über meinen Körper, schafft es nicht. Ich würge, mein Magen zieht sich zusammen, ich erbreche Gallensaft.

      »Nehmen Sie das weg. Bitte!«

      Ny'Chelle denkt nicht daran. »Du kannst dir die Show sparen. Deine Epilepsie versucht die psychochemische Bindung des AntiNy zu kompensieren. Das wird nicht funktionieren. Gib mir den Zugangscode und ich erlöse dich.«

      »Wofür?«, hauche ich und warte sehnsüchtig auf die Bewusstlosigkeit.

      »Zum K-db!«

      K-db! Die Erkenntnis jagt einem Stromschlag gleich durch meinen Körper. Da war es: Katees unheimliches Gestammel. »Hd-k-db.«

      »Ich weiß nichts von einem KahDehBeh.«

      »Du willst mir allen Ernstes sagen, dass du seit über einem Jahrzehnt ein HD dein Eigen nennst, das Ding gevögelt hast, ohne zu wissen, was da in deinen Armen gelegen hat?«

      »HahDeh?«

      Ny'Chelle verliert die Fassung, holt Luft und brüllt mit aller Kraft in mein rechtes Ohr.

      »Human device! Und wenn ich nicht sofort das Passwort zum Kernel Debugger bekomme, reiße ich dir dein Herz raus und fresse es vor deinen brechenden Augen.«

      Ein Zittern geht durch ihren Körper, ihre makellosen Züge morphen zu einer Fratze des Grauens. Das Raubtiergebiss schiebt sich weiter aus ihren Kiefern hervor, ihre rot-goldenen Augen erlöschen und werden pechschwarz. Ein Grauschleier fegt über ihr Federkleid und lässt es rapide altern. Passend zum Gebiss verformen sich die Fingernägel zu rasiermesserscharfen Krallen. Die Kreatur wird von schweren Hustenanfällen heimgesucht, geifert grünen Speichel. Federn lösen sich aus ihren Schwingen, schweben zu Boden. So schnell der Spuk gekommen ist, verschwindet er, und Ny'Chelles menschliche Züge kehren zurück. Ihr gelichtetes Federkleid bleibt schmutzig grau.

      »Entschuldigung!«, stammelt sie und verlässt fluchtartig die Kammer.

      Katee, ein human device? Ein menschliches Gerät? Und der Hd-k-db, ein human device kernel debugger? Ein Werkzeug zum Auffinden, Diagnostizieren und Beheben von Fehlern in einem Computersystem? Debugger funktionieren auf unterster Ebene, bevor das Betriebssystem geladen wird. Soll das heißen, dass der Computer Katee durch Schüsse beschädigt worden ist und das Notprogramm, den Debugger gestartet hat? Dieser hat Katees Körper übernommen und mit untotem Leben erfüllt? Oh, mein Gott! Das Stottern ist keine Botschaft gewesen, sondern eine Eingabeaufforderung.

      Meine Zähne rammen sich in die Unterlippe. Der Geschmack von Blut drängt die epileptischen Nebel in meinem Kopf zurück. Wie die Segmente einer Pusteblume setzt sich das mörderische Puzzle zusammen. Mein bisheriges Leben zerplatzt wie eine Seifenblase.

      Es raschelt, und meine Peinigerin kehrt in Begleitung zweier Roboter zurück. Sie sind knapp zwei Meter groß und aus einem flexiblen, goldglänzenden Werkstoff gefertigt. Ihre Bewegungen sind geschmeidig, lautlos und ohne Faltenbildung an den Gelenken. Die Maschinen sind geschlechtslos und verfügen über einen, den Kopf umspannenden, schwarzen Wulst. Ihre Existenz erdrückt mich, es bedarf keiner Anstrengung, ihren Zweck zu erraten: Henker.

      Lauwarme Metallpranken umfassen meine geschwollenen Handgelenke. Ich schreie vor Schmerz. Die Fesselungen öffnen sich, und ich werde in die Höhe gewuchtet.

      »Ich hatte dir einen schmerzlosen Tod angeboten, doch ohne Passwort sehe ich keinen Grund, mein Versprechen zu halten. Die Gladiatroniken sind hier, um deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Sie werden dir unmissverständlich zeigen, was es heißt, den starken Mann spielen zu wollen.«

      »Wie ich Ihnen sagte, ich habe kein Passwort. Ich weiß nur, dass Sie das Abscheulichste sind, was mir in meinem kurzen Leben begegnet ist. Gegen Sie sind selbst die Mörder meiner Freundin Heilige.«

      »Es reicht! Befehl 33: Bis zum Tod. Fort mit ihm!«

      Die seelenlosen Maschinen nicken devot, schleppen mich aus der Kammer und einen röhrenförmigen Gang entlang. An seinem Ende öffnet sich ein Schott und gibt den Blick auf eine weitere Folterzelle frei. Statt eines Stuhls stehen zwei Pfähle im Abstand von weniger als zwei Metern mitten im Raum. Beide Pfähle verfügen über Hand- und Fußschellen. Ich werde wie ein X zwischen den Pfählen aufgespannt. Die Schmerzen in den Händen sind unbeschreiblich.

      Die Killermaschinen ziehen Stacheldrahtruten aus ihren Fingerspitzen. Mein Herz rutscht in die nicht vorhandene Hose. Ich verstehe, was Befehl 33 bedeutet: Entweder ich rede, oder ich werde in Stücke gepeitscht.

      Die Maschinen fahren ihren Augenwulst hoch. Ein dunkelroter Punkt leuchtet auf und ehe ich schreien kann, beißen sich die Ruten durch meine Brusthaut. Meine linke Brustwarze klatscht an die Wand, mein Blut spritzt durch die Zelle. Schlag um Schlag reißen mir die Ruten das Fleisch von den Knochen. Als ich meine Rippen sehe, versagt meine Stimme, wird kraftlos und geht in ein heiseres, wahnsinniges Kichern über.

      Plötzlich kommt die Erkenntnis. Das Wort! Klarer als jede Erinnerung an mein bisheriges