Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


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wir werden zu den Schwertern eilen, Geschichte schreiben. Wir, Sir Thomas of Palpine und Lady Caitleen of Bloomsbury.

      Philipp legt seinen Arm kumpelhaft auf meine Schulter.

      »Du kannst es nicht erwarten, nicht wahr?«

      Ich nicke. »Es ist überwältigend.«

      »Ein Traum. Der Boden riecht nach Abenteuer.«

      Wie berauscht atme ich die würzige Luft ein und träume mit offenen Augen. Wer waren die Menschen, die einst riesige Steinblöcke nach Wiltshire transportierten? Womit und wofür? Die Wissenschaft hat keine Antworten, nur graue Theorien.

      Außer Katee. Für sie ist Stonehenge kein Mysterium. »Du wirst sehen, schon bald nach unserer Ankunft wird sich das Tor öffnen und Merlin selbst wird dich begrüßen.«

      Ich schmunzle. Zwar gibt es ein Tor in der Stadtmauer, das von fröhlich lärmenden Spielern durchquert wird. Von Merlin, dem Zauberer aus den Tiefen der britannischen Mythologie, fehlt jedoch jede Spur.

      Katee hat sich in Schale geworfen und erntet einen bewundernden Blick nach dem anderen. Meine Rüstung wartet derweil in Philipps Auto auf ihren Einsatz, für Chuckys Rede brauche ich sie nicht. Der Sprühregen lässt nach und macht einem Gewitter Platz. Am Horizont zucken Blitze, der ferne Donner geht im Geräuschpegel der Menge und den Proben der Barden unter. Ölfackeln erhellen die Szenerie. Es herrscht eine gespannte Erwartung. Die Stimmung ist auf dem Siedepunkt, die Menschen sind kaum mehr zu bändigen.

      Fanfarenbläser gehen in Position, der Klang ihrer Instrumente kündet von Chuckys Ankunft. Katee drückt meine schweißnasse Hand einen Tick fester. Der langersehnte Augenblick ist endlich gekommen. Tausende Herzen schlagen gemeinsam im Takt.

      »Ahhh.«

      »Ohhh.«

      Die brodelnde Menge begrüßt Chucky, der in einer von acht spärlich bekleideten, jungen Männern getragenen Sänfte ins Zentrum der Anlage chauffiert wird. Vor ihr schreiten weiß gekleidete Mädchen und streuen Blumen. Ich schüttele belustigt den Kopf, origineller geht es nicht.

      Die Sänfte gleitet sanft zu Boden. Chucky ächzt aus ihr heraus und winkt der Menge zu. Zwei Jungfern machen ihm ihre Aufwartung und geleiten ihr Idol zum Podium: einem quer liegenden, altarähnlichen Monolithen. Ein Gong wird geschlagen, die Musik verstummt.

      »Hallooo ihr Süßen!«

      »Hallo Chucky!«

      »Habt tausend Dank für euer Kommen!« Chucky hebt die Arme, badet im tosenden Beifall seiner Freunde. Wir lieben ihn, doch ansehnlich ist er nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, was Frauen, geschweige Männer an ihm finden. Kurze Beine, wabbelnder Fettbauch, Stoppelbart und schmierige Glatze. Er erinnert mich an Princeps Nero aus Sienkiewiczs Quo Vadis: komisch, genial und ekelerregend zugleich.

      »Ich liebe euch alle!«, ruft er seinen Fans entgegen und diese preisen ihn umso lauter.

      »Chucky! Chucky! Chucky!«

      Einige Frauen reißen sich die Tuniken vom Körper, entblößen ihre Brüste. Das obszöne Gehabe wirkt total daneben. Philipps angewiderter Gesichtsausdruck bestätigt mich in meiner Meinung.

      »Meine Süßen, habt Dank für diesen herzlichen Empfang! Lasst uns die Jerusalem Games zum Schönsten und Größten machen, was wir jemals auf die Beine gestellt haben.«

      Unerwartet legt sich ein Schatten über sein Gesicht und die Menge verstummt. Chucky fingert nach einem Taschentuch, kämpft mit seinen Gefühlen. »Das Jerusalem ist mein letztes Spiel, das ich mit euch erleben darf.«

      Der aufbrausende Tumult ist unbeschreiblich. Die Menge schreit ihre Verzweiflung heraus, Spielerinnen fallen in Ohnmacht. Katee hockt sich achtlos in den Matsch, ruiniert ihr schönes Kleid. Der Schock sitzt tief.

      Chucky Brandon hebt beschwichtigend beide Arme und versucht seine Rede zu retten.

      »Leute! Bitte, macht es nicht schlimmer, als es ist«, hallt seine von tiefer Trauer erfüllte Stimme durch die Anlage. »Wie ihr wisst, bin ich schwul. Ich habe mein Leben in vollen Zügen genossen. HIV war in meiner Jugend ein Fremdwort. Und Kondome? Wofür?« Chucky lacht, holt tief Luft und blickt nachdenklich in Richtung des sich nähernden Gewitters. »Lange Rede, kurzer Sinn: Ich weiß seit Jahren, dass mich der Virus erwischt hat. Mein Gatte John und ich haben in ständiger Angst gelebt, dass die Krankheit eines Tages ausbrechen könnte.« Er schluchzt und schnäuzt ins Taschentuch. Eben noch über den Kult erschrocken, muss ich Brandon meinen Respekt zollen. »Wir haben euch nie mehr Geld abgenommen als nötig. Wir wussten, dass kein Geld der Welt mich retten kann. Die Wissenschaft ist noch nicht soweit. Die Szene und unsere gemeinsamen Abenteuer waren uns wichtiger. Heute haben wir die Forge of Virtue geschlossen. Euer Chucky hat seinen Hammer zurück auf den Amboss gelegt.«

      Das erklärt die günstigen Preise vom Vormittag. Die fetten Rabatte waren keine einmalige Sonderaktion zu den Jerusalem Games sondern ein Ausverkauf.

      »Beruhigt Euch bitte. Lasst unser Spiel zur schönsten Show werden, die unsere vor Vorurteilen und Hass zerfurchte Welt gesehen hat! Helft eurem Chucky und seiner Braut das Leben in Erinnerung zu behalten, wie es uns Spaß gemacht hat! Gemeinsam mit euch, unseren Freunden!«

      Katee springt auf, schüttelt den Kopf und starrt zum Tor in der Stadtmauer. Ihre Tränen sind versiegt, das Gesicht ist totenbleich. »Merlin?«

      »Umso mehr freue ich mich, Gäste aus aller Herren Länder begrüßen zu dürfen«, setzt Chucky seine Rede fort. »Aus den USA, aus Frankreich und Deutschland, aus Polen und Russland! Und ja, sogar aus Palästina!«

      Seine Stimme donnert über den Platz wie die Maschinengewehrsalve, die einen Sekundenbruchteil später ihn und viele andere durchsiebt. Sein infiziertes Blut spritzt umher, die fassungslose Menge ist zu geschockt, um flüchten zu können. Blitzschnell drückt Philipp Katee und mich hinter einem der Monolithen nach unten.

      Die Schocksekunde vergeht, die Menschen rennen panisch auseinander. Doch die Kulisse aus Stadtmauern und Monolithen ist zur Falle geworden. Im einzigen Ausgang, im Torbogen, versperren zwanzig Männer den Weg und halten stumm ihre noch qualmenden Maschinenpistolen auf die Menge gerichtet. Überall liegen Leichen. Schreie erfüllen die Luft. Es knackt und ein Megaphon hallt über unsere Köpfe hinweg. Den Akzent kenne ich. Aus Shuckum's Oyster Bar.

      »Wir, die Söhne der Freiheit, erklären euer gottloses Treiben für beendet!« Totenstille, selbst die Verletzten schweigen. »In diesen Minuten wird der Saat Amerikas und seiner Vasallen folgendes Ultimatum übermittelt: Erstens zieht es sich aus den von ihr besetzten Gebieten Palästinas zurück. Zweitens werden alle unsere inhaftierten Kampfgefährten freigelassen. Und drittens werden alle in der Welt verstreuten Brüder und Schwestern in unsere angestammte Heimat zurückkehren dürfen. Ihr habt zwölf Stunden für den endgültigen Abzug der Besatzungstruppen sowie für eine völkerrechtlich bindende Erklärung vor den Vereinten Nationen, aus der die Freilassung unserer Kampfgefährten und die Rückkehr unserer Familien resultieren wird. Wir fordern die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates auf, vor Allah, dem Gnädigen und Barmherzigen sowie den Völkern der Welt, diese Erklärung einstimmig zu garantieren.«

      Mein Lieblingsfilm wird Realität. Die Erde steht still, allerdings nicht vor irgendwelchen Aliens, sondern vor dem Bösen in uns.

      »Werden unsere Forderungen nicht binnen zwölf Stunden erfüllt, werden wir die hier Anwesenden hinrichten. Zu diesem Zweck wird ein atomarer Sprengkopf aus den Beständen der ehemaligen Sowjetunion im Zentrum von Stonehenge sowie konventionelle Sprengstoffpakete im Bereich der äußeren Kulissen montiert. Niemand betritt oder verlässt die Anlage. Übergriffe durch Anwesende oder Sicherheitskräfte haben die sofortige Zündung des Sprengkopfes zur Folge.«

      Daraufhin entblößen die Terroristen ihren rechten Unterarm und das, was unter ihren Jacken bislang verborgen war: Sprengstoffwesten und Kabel, die zu einer Armbanduhr am rechten Handgelenk führen.

      »Der Zünder ist pulssynchronisiert. Sollte sich in unseren Reihen ein Puls deutlich verlangsamen oder aussetzen, wird automatisch die Atombombe gezündet. Gleiches geschieht