Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


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fegt über das Land.

      »Uhrenvergleich: Ab jetzt verbleiben der Welt noch elf Stunden und siebenundfünfzig Minuten!«

      Countdown

      Stonehenge gleicht einer Geflügelmast. Wir sind im Steinkreis zusammengepfercht, Lebende und Tote. Ohne Nahrung, ohne Toiletten. Unsere Lebenserwartung ist auf weniger als elf Stunden reduziert. Überall klebt Blut.

      Katee, Philipp und ich kauern hinter einem Monolithen. Neben mir sitzt ein junges Mädchen und liebkost ihren toten Freund. Sein Hinterkopf fehlt, die Augen sind nach innen gerutscht. Sie summt ein Kinderlied, der Wahnsinn hat sich ihrer Seele angenommen.

      »Tick, tock, tick, tock. There goes the clock.«

      In mir brodelt es. Wut und Ohnmacht schaukeln sich gegenseitig hoch. Mir knallt die Sicherung durch, blind vor Zorn springe ich auf.

      »Spinnst du?«, brüllt Philipp, versucht mich zu packen. Vor meinen Augen dreht sich alles, ohne nachzudenken schlage ich um mich, rudere mit den Armen in der Luft. Stählerne Hände schnappen nach mir, und ehe ich mich versehe, blicke ich drei schwer bewaffneten Terroristen ins Gesicht. In ihren Augen brennt das gleiche fanatische Feuer wie in den Augen meiner unseligen Bekanntschaft aus Hollywood. Vor mir stehen keine Menschen, sondern Monster. Wesen, die ihre Menschlichkeit wie einen Mantel an der Abendgarderobe abgelegt haben.

      »Noch eine Bewegung und ich knall dich ab, Ungläubiger.«

      Langsam hebe ich die Arme. Irgendwo steht geschrieben, dass erhobene Arme mit offenen Handflächen eine beruhigende Wirkung haben sollen. Für einen Moment steht die Zeit still, dann grabschen die Kerle nach Katee.

      »Finger weg von meiner Verlobten!«

      Ich balle meine rechte Hand zur Faust und lande einen K.O.-Schlag wie aus dem Bilderbuch. Das Schwein sackt zu Boden, eine Maschinenpistole rattert und Projektile mit meinem Namen peitschen durch die Luft.

      »Neiiin!«

      Die Kugeln treffen, entfesseln ihre tödliche Wucht. Blutbesudelt sacke ich auf den Boden, schlage hart auf. Aus und vorbei!

      Seltsam. Keinerlei Schmerz.

      Überrascht hebe ich den Kopf und schlage die Augen auf.

      »Caitleen!«

      Ich hocke bei Philipp. Katee liegt in meinen Armen. Bis auf ein allgegenwärtiges Wimmern herrscht Ruhe im Schlachthaus. Meine Tränensäcke sind leer, keine Träne der Welt wird mir Katee zurückgeben können. Sie ist tot. Gestorben, um mich zu retten. Mit einem Hechtsprung hat Katee die für mich bestimmten Kugeln mit ihrem Körper abgefangen, ist mit mir zusammengeprallt und hat mich umgerissen. Meine Verlobte hat meinen Wutanfall mit ihrem Leben bezahlt. Ich küsse ihre kalten Lippen, die sich mit jedem Kuss härter anfühlen. Mein Herz liegt auf Eis.

      Mein Blick wandert durch die Reihen. Wer Glück hat, ist tot. Der überwiegende Rest zählt die Stunden und Minuten. Heftiger Regen hat den mit Blut und Urin getränkten Boden in Schlamm verwandelt. Stonehenge stinkt zum Himmel. Die Wolken lassen kein Sternenlicht hindurch. Eine Ölfackel nach der anderen erlischt. Es ist eine Frage der Zeit, bis gnädige Dunkelheit für trügerischen Frieden sorgen wird.

      Im Zentrum der Anlage thront der mülltonnengroße Atomsprengkopf. Auf zwei mit Schwerlastrollen ausgestatteten Surfbrettern war er ins Innere des Steinkreises gezogen und montiert worden. Anschließend hat das Pack einen VW-Transporter im Torbogen quergestellt und sich auf die Stadtmauer verpisst. Von dort oben kontrollieren die Terroristen das ganze Areal. Dem Lärm jenseits der Kulisse nach zu urteilen, ist der Aufmarsch von Presse und Sicherheit in vollem Gange. Ab und zu hört man einen Hubschrauber.

      Erinnerungen durchfluten mich. Katee. Unsere Schulzeit. Unser erster Kuss, das ständige Versteckspiel, bis uns Tante Daisy im Bett erwischt hat.

      »Thomas!«, ruft Philipp und holt mich in die Gegenwart zurück. »Siehst du das?«

      Katees Augenlider flattern, ihr erstarrter Körper zuckt wie unter einem Stromschlag. Sie hustet.

      »Engelchen.«

      »Das ist kein Husten«, flüstert Philipp und hilft mir, ihren Körper in meinen Armen zu stabilisieren.

      »Hd-k-db.«

      Philipp hat recht. Es sind keine Hustenschübe, sondern Katees Versuch, mir etwas zu sagen.

      »Hd-k-db.«

      »Liebling?«, rufe ich verzweifelt. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

      Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass Katee tot ist. Ihre Verletzungen sind eindeutig, das Herz steht still. Katees Körper ist seit Stunden kalt, die Totenstarre hat eingesetzt.

      »Hd-k-db.«

      Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen und Katees Leichnam sinkt in sich zusammen. Ich schreie, rieche frisch gemahlenes Zimt. Eine Aura? Weiße Blitze tanzen vor meinen Augen. Epileptische Krämpfe übernehmen meine Muskeln. Katees Leiche und ich rutschen weg. Mir wird schwarz vor Augen, der Anfall raubt mir das Bewusstsein.

      Ein Stöhnen weckt mich, Helligkeit dringt durch meine geschlossenen Augen. Todmüde öffne ich sie und blinzele in einen blauen Himmel.

      »Ich wünsche dir keinen guten Morgen«, sagt Philipp lapidar und hockt sich neben mich. Ich fühle mich wie gerädert. »Erstens, weil es kein guter Morgen wird und zweitens, ohne Frühstück ist eh alles verloren.«

      Mein Magen knurrt wie aufs Stichwort. Ich sehne mich nach einem Schluck Wasser und einem Stückchen Brot. Der Anfall hat mich ausgebrannt. Langsam setze ich mich auf und massiere meine Waden. Die Menschen um mich herum sind noch enger zusammengerückt, haben mir für die unkontrollierbaren Zuckungen Platz gemacht. Ich flüstere ein unhörbares Dankeschön und nicke meinen Mitgefangenen zu. Erst das Massaker, dann die Epilepsie, wahrhaft keine schönen Anblicke. Ich schaue mich um, zucke zusammen. Katees Leiche ist mit Umhängen eingehüllt und hat mir als Kopfkissen gedient. Die Erinnerung, der Gedanke an meine tote Freundin wird surreal.

      »Willst 'n Bier?«, fragt Philipp und kichert irr. Greift zur Seite, ins Leere und tut so, als ob er eine Flasche köpft. »Hier Kumpel, fang!«

      Gierig schnappe ich nach der virtuellen Pulle und trinke sie in einem Zug leer. Dann rappele ich mich hoch und setze mich neben meinen Freund. Einen weiteren Blick auf Katee erspare ich mir. Philipp legt seine Hand auf meine Schulter, Wärme durchflutet meinen Körper.

      »Na, willst du noch eins?«

      »Lass man gut sein. Am Ende muss ich noch aufs Klo.«

      »Macht nix!«, prustet Philipp. »Wir haben eh die Hosen voll.«

      Ein wirrer Gedanke jagt durch meinen Kopf. Ich muss unfreiwillig schmunzeln, hole tief Luft und beginne zu singen.

      »Rule, Britannia! Britannia, rule the waves! Britons never, never shall be slaves.«

      Philipp runzelt die Stirn. »Sag mal, was hast du denn geraucht?«

      Ich ignoriere seine Bemerkung. Was ihm die virtuelle Bierflasche ist mir mein Lied. »Rule, Britannia! We all will pass away: Mankind never, never shall be slaves!«

      »We came as strangers but now we die as friends: Mankind never, never shall be slaves.«

      »Hey Philipp, das ist mein Song!«

      Es wird still, alles blickt uns an. Glanz kehrt in die Augen unserer Leidensgenossen zurück – und Verdis Nabucco erlebt ein neuzeitliches, schräges Remake.

      »Go you monsters! You monsters, go away: Mankind never, never shall be slaves.«

      Schüsse pfeifen über unsere Köpfe hinweg. Erneutes Schweigen. Da erhebt sich eine weitere Stimme gegen unsere Ohnmacht. Mit schottischem Akzent.

      »Shoot us, you killers! You butchers, shoot us now: Mankind never, never shall be slaves.«

      Vier, fünf, sechs, zehn, zwanzig. Alle!

      »Kill