Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


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hast recht, ich bin nicht deine Mutter. Aber wisse, dass ihre Seele in mir wohnt.«

      Mein Herz zerbricht erneut. Niedergeschmettert blicke ich dem Wesen in die Augen.

      »Wenn du nicht meine Mutter bist, wer bist du? Der liebe Gott?«

      »Thomas Kyle Jennings, Mensch der Erde«, lacht Mutter. »Muss es gleich ein Gott sein, wenn man nicht weiter weiß?«

      Meine Galle zieht sich krampfhaft zusammen, aus meiner Trauer wird Verbitterung.

      »Nein, natürlich nicht. Was dann? Mein Hirngespinst? Hat die Explosion nicht stattgefunden, und ich liege als Folge einer Befreiungsaktion im Koma?« Mutters Antlitz fließt auseinander und gruppiert sich neu. Ihre Augenfarbe wechselt von blau nach schwarz. »Antworte mir!«, verlange ich eine Idee barscher als beabsichtigt.

      »Gut, wie du willst. Wir befinden uns in einer zufälligen Blase aus Raum und Zeit.«

      »Wir sind Quantenschaum? «, stöhne ich. »Wie originell!«

      Das Wesen blickt mich irritiert an. »Du weißt, was das bedeutet?«

      »Natürlich!«, antworte ich großspurig und fühle mich wie neugeboren. Physik ist meine Leidenschaft. »Es ist egal, was war, ist und sein wird. Der Zufall entscheidet, und daraus entsteht eine neue Realität. Richtig?«

      »Falsch. Heute ist dein Glückstag. Du darfst Zufall spielen und dein Schicksal selbst bestimmen.«

      »Bullshit! Realitäten entstehen aus Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich entscheiden dürfte, würde ich eine Realität erschaffen.« Ich komme in Fahrt. »Was jedoch kein Zufall wäre, der Theorie des Quantenschaums widerspricht und damit …«

      »Solltest du besser deinen vorlauten Mund halten und mir vertrauen«, unterbricht mich das seltsame Wesen. »Mit der Bombenexplosion ist eine Wahrscheinlichkeit zur Realität geworden. Und du wurdest Teil dieser neuen Welt, ob du willst oder nicht.«

      »Das ich nicht lache! Mein Leben ist gelaufen. Katee ist tot und ich bin Quantenschaum. Echt klasse, deine neue Welt.«

      »Sei nicht so hart mit dir. Man kann durchaus sein Schicksal, die Geschichte und das Antlitz des Universums verändern.«

      »Wie beruhigend«, murmele ich zynisch. »Als nächstes zeigst du mir Cäsar und was passiert wäre, wenn er nicht den Rubikon überschritten hätte, ja?«

      Minuten vergehen. Die Augen des Wesens fixieren mich, meine Seele wird durchleuchtet. Das Licht beginnt zu brodeln. Schemen treten hervor und verdichten sich zu einem dreidimensionalen Bild.

      Europa. Erster Weltkrieg. Geoffrey Peters, ein junger britischer Soldat schält sich aus dem Licht und gleitet durch mich hindurch. Peters ist frisch verheiratet und gerade Vater geworden. Leider wird er seine Familie nicht wiedersehen, weil eine Kugel mit seinem Namen bereits auf ihn wartet. Woher ich das weiß? Keine Ahnung.

      Aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet Peters zwei Soldaten. Gegner. Der Ältere sitzt auf einem umgestürzten Baumstamm und säubert sein Gewehr, der Jüngere steht mit dem Rücken zum Briten. Die beiden Soldaten schwatzen, reißen Witze über Gott und die Welt. Peters Gesicht wird vergrößert. In seinen Augen liegt Ratlosigkeit. Ich ahne seinen Konflikt zwischen Gewissen und vaterländischer Pflicht. Vor ihm sitzt der Feind, frei zum Abschuss. Peters ist Mensch, sein Gewissen weigert sich, die beiden grundlos zu erschießen. Peters denkt an seine Familie. Er ist innerlich zerrissen, atmet kräftig durch und denkt erneut an seine Pflicht, an King George und an das britische Vaterland. Peters verbannt Frau und Kind aus seinen Gedanken, fällt eine Entscheidung: Er legt an, zielt: erst auf den Älteren, anschließend auf den Jüngeren. Überlegt: Zwei gut platzierte Kopfschüsse, und keiner von beiden würde leiden müssen. Wieder schafft es Peters Familie aus den Tiefen seiner Seele in seine Gedanken zurückzukriechen, appelliert an das Gute in ihm. Mit Gänsehaut im Nacken erkennt der junge Brite die Unsinnigkeit des europäischen Brudermordes. Leise und unbemerkt schleicht er davon, seiner für ihn reservierten Kugel entgegen. Als diese ihn wenige Stunden später tödlich verwundet, stirbt Peters mit einem reinen Gewissen. Er hat sich nicht zu einem willenlosen Soldaten, einem staatlichen und mit fragwürdigen Ehren überhäuften, kaputt gedrillten Killer degradieren lassen. Das Bild wird unscharf, flackert und wechselt zu den von Peters verschonten Soldaten zurück. Sie ahnen nicht, wie knapp sie dem Tod entronnen sind.

      »Stop«, sage ich und die Vision wird zum Standbild. »Das reicht, danke. Ich habe verstanden. Wenn ich weiterleben darf, werde ich nicht über die Muslime herfallen und Katees Tod rächen. Ich werde auf mein Gewissen hören. Es waren Einzeltäter, die in Amerika und England gewütet haben, nicht ihr Volk oder ihre Religionsgemeinschaft.«

      Das Wesen beginnt zu lachen. Ich balle beide Fäuste.

      »Du möchtest deinem Herzen folgen? Wie Peters?«

      »Ja, was ist daran verkehrt?«

      »Da, urteile selbst.«

      Das Licht pulsiert und die letzten Sekunden der Szene wiederholen sich. Dann dreht sich der jüngere Soldat um und macht einen Schritt auf mich zu. Mein Herz vergaloppiert sich, ich stehe Auge in Auge mit Adolf Hitler!

      Die Erkenntnis ist wie ein Schlag in die Magengrube. »Heißt das«, stottere ich, »dass ein gezielter Schuss alle Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts verhindert hätte?«

      »Ja, ein einziger Schuss. Zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Die Welt, wie du sie kennengelernt hast, würde anders aussehen.«

      »Okay«, flüstere ich, Hitlers Visage noch vor Augen. »Je nachdem, wie man die Dinge betrachtet, gibt es kein Richtig oder Falsch, nur Entscheidungen, die beliebige Wahrscheinlichkeiten in Realitäten überführen. Egal, ob sich diese Entscheidungen gut oder schlecht auswirken werden?«

      Mutter nickt. »Und? Bist du bereit, aus Wahrscheinlichkeiten neue Realitäten zu erschaffen, Verantwortung zu übernehmen und das Universum mitzugestalten?«

      »Wer? Ich?«

      Tommy, ein unbedeutender Waisenjunge mit gebrochenem Herzen? Ich, Gestalter des Universums? Irgendwie habe ich mir das Leben nach dem Tod anders vorgestellt.

      »Glaubst du, Peters war ein besonderer Mensch? Oder zum Helden geboren? Die Welt hat Geoffrey Peters nicht zur Kenntnis genommen. Weder als Hitler verschonenden Versager noch als möglichen Helden und Tyrannenmörder. Vielleicht hat Geoffrey Peters auch nur in meinem Beispiel existiert, um dir die Vielfalt an möglichen Entwicklungen aufzuzeigen. Bedenke, das Hier und Jetzt entscheidet, nicht das Könnte oder Würde.«

      Nach diesen Worten löst sich das Wesen ohne Vorwarnung in Luft auf.

      »Hey!«, rufe ich ins Nichts. »Wir sind nicht fertig. Da ist noch soviel, was ich dich fragen möchte.«

      Nichts.

      Hatte ich mir die Begegnung eingebildet? Ich atme tief durch. Raumzeitblasen, Wahrscheinlichkeiten und Realitäten. Langsam beginne ich zu verstehen. Was immer in Stonehenge geschehen ist, man verlangt eine Entscheidung von mir.

      »Einverstanden«, flüstere ich und schließe die Augen. »Ich werde darüber nachdenken. Ich werde versuchen, Entscheidungen zu treffen. Und lernen, mit ihren Konsequenzen zu leben.«

      Ich packe meine Ängste, Hoffnungen und Wünsche in den Würfelbecher des Schicksals, schüttele kräftig und leere ihn ins Nichts. Alea iacta est, rien ne va plus. Ich atme ruhig und konzentriert, hole tief Luft und erwache mit einem Schrei.

      Engel und Teufel

      Eine alles verzehrende Helligkeit. Die Farbe Weiß ist zu dunkel und zu kalt, um das grelle heiße Licht zu beschreiben. Bunte Reflexe verdichten sich hinter meinen geschlossenen Augenlidern zur Farbe Pink. Bin ich tot?

      Ich öffne die Augen, blinzele. Es dauert ein paar Minuten bis ich einwandfrei sehen kann. Das Jenseits ist eine pinkfarbene Hohlkugel mit einem Schönheitsfehler: Ich sitze nackt auf einem Stuhl, gefesselt, und starre ins Leere. Mein Körper fühlt sich an,