Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


Скачать книгу

      »Sternenprinz.«

      Die Augenwülste, besser gesagt, die Visiere schließen sich. Die Maschinen verlassen das Schlachthaus. Wie durch dichten Nebel sehe ich, wie meine Brustwarze langsam an der Wand heruntergleitet und eine Blutspur hinterlässt. Ich werde bewusstlos.

      Langsam öffne ich die Augen, blicke erneut in pinkfarbenes Licht. Ich sitze auf einem Stuhl, bin ungefesselt und stecke in einem sauberen, pyjamaähnlichen Kleidungsstück. Vor mir steht Ny'Chelle, breitbeinig und mit vor geschrumpften Brüsten verschränkten Armen. Ihre Augen sezieren mich. Ihre Attraktivität ist verschwunden, sie wirkt ungepflegt und zerzaust. Sie seufzt, verliert weitere Federn.

      »Manchmal geschehen Zeichen und Wunder.« Ihre Stimme klingt wie eine Entschuldigung.

      Seltsam, denke ich und blicke verwundert auf meine geschundene Hand. Anstelle dicker Verbände und Schmerzen fühle ich glatte Haut und intakte Knochen. Auch die Brustwarze ist dort, wo sie sein soll. Gähne und begebe mich erneut in Morpheus Arme.

      Leiden. Schlafen. Sterben und erwachen. Ich fühle eine Liege in meinem Rücken, jemand räuspert sich. Ich hebe meinen Kopf. Ein paar Meter vor mir steht ein Mann in militärischer Grundhaltung. Das Gesicht zur Wand, den Rücken mir zugedreht. Kurzes, graues Haar bedeckt seinen Hinterkopf. Wie Ny'Chelle trägt er einen Einteiler. Pechschwarz. Hat Ny'Chelles Bekleidung ihre erotische Ausstrahlung unterstrichen, wirkt der Mann in seiner Bekleidung autoritär und kompromisslos. Seine Anwesenheit verspricht nichts Gutes.

      »Hey!«, rufe ich und versuche seine Aufmerksamkeit zu erregen.

      Er reagiert nicht. Ich versuche aufzustehen. Meine Beine sind Wackelpudding, drohen nachzugeben. Vielleicht ist es besser, zunächst auf der Liege sitzen zu bleiben.

      »Das ist weise«, sagt der Mann mit scharfer und befehlsgewohnter Stimme. Sie duldet keinerlei Widerspruch. »Die zwei Wochen im Analysetank haben deinen Kreislauf auf ein Minimum heruntergefahren.«

      »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

      Langsam schaffe ich es, die Kontrolle über meine Beine zurückzugewinnen. Ich drücke mich hoch und schwanke wie der Glöckner von Notre-Dame meinem Besucher entgegen. Dieser bleibt regungslos.

      »Hallo? Ich rede mit Ihnen.«

      »Halt den Mund, Thomas!« Der Mann dreht sich um, und ich blicke in die Augen meines Vaters.

      Mein Herz setzt aus. Das kann nicht sein. Mein Vater ist tot. Er wurde ermordet, kurz vor meiner Geburt. Ich zittere, suche Halt am Rand der Liege.

      Der Mann ähnelt meinem Vater, wie ich ihn auf Mutters Fotos in Erinnerung habe: zwar knappe fünfundzwanzig Jahre älter, aber das gleiche kantige Gesicht und die graugrünen Augen.

      »Wer sind Sie?«, flüstere ich haltlos.

      Meine Beine geben nach, ich stolpere und falle durch ihn hindurch. Eine Sinnestäuschung?

      Mein Gott, wie oft habe ich das Grab meines Vaters in Arlington besucht? Wie oft habe ich bitterlich geweint, meinen Schmerz in den Himmel geschrien? Nein, mein Vater ist tot. Und die Erscheinung ein neuer Schachzug Ny'Chelles um mich weichzukochen.

      Das look-a-like meines Vaters schaut kalt auf mich herab.

      »Ich bin dein Vater, aber das ändert nichts an deiner Situation. Du bist ein ungebetener Gast, ein Relikt, das es zu beseitigen gilt.«

      »Ny'Chelle?«, schreie ich ins Leere. »Hören Sie auf! Der Mann ist nicht mein Vater! Meine Mutter hat Kyle geliebt. Dieser Kyle könnte und würde niemals seinen eigenen Sohn töten lassen.«.

      Die Projektion meines Vaters flimmert und erlischt. Ein Schott öffnet sich. Ny'Chelle tritt ein, wirkt fassungslos.

      »Habe ich das richtig verstanden? Er will dich beseitigen lassen?«

      »Wollten Sie das nicht?«, frage ich verstört und rappele mich hoch. »Davon abgesehen, haben Sie mir nicht genug Schmerzen bereitet? Können Sie nicht wenigstens meine Eltern aus dem Spiel lassen?«

      »Sein Codename ist Merlin. Er ist seit 1978 der Oberbefehlshaber des Sonnensystems, präsidialer Senator und unser zweiter Erdprotektor. Ich spiele nicht mit dir. Merlin ist Kyle Steward Francis Jennings. Dein Vater.«

      Im Vorhof zur Hölle

      »Sie können mich gerne weiter foltern. Aber das war nicht der Mann, von dem meine Mutter schwärmte, seinetwegen in den Tod ging.«

      Ich kämpfe mit meinen Gefühlen. Tränen benetzen meine Augenwinkel, meine Sicht verschwimmt. Mit einem Seufzer sacke ich auf die Liege zurück und vergrabe das Gesicht in den Händen. Gibt es nach Katee eine weitere Wahrheit, die ich nicht kenne? Hat Mutter mehr gewusst und daher den Tod gesucht? Wenn ja, werde ich nicht eher ruhen, bis das ich ihren Tod eigenhändig gerächt habe.

      Ny'Chelle setzt sich zu mir, schweigt. Ich blicke dem Todesengel fest in seine dunklen Augen.

      »Worauf warten Sie noch? Sie hatten mir einen schmerzfreien Tod versprochen. Ich nehme Sie jetzt beim Wort: Sternenprinz.«

      Ny'Chelles Oberlippe zuckt leicht. Mit jeder Minute, die verstreicht, wird Ny'Chelles Antlitz härter, männlicher. Es ist augenscheinlich, dass sie massive, gesundheitliche Probleme hat.

      »Lass mich reden«, bittet Ny'Chelle und hilft mir hoch. Die unerwartete Konfrontation mit meinem Vater hat meine Angst vor Ny'Chelle und meine Wut über die erlittenen Qualen in Rauch aufgehen lassen. »Du wirst nicht getötet. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Kyle erklärte uns, du wärest ein feindlicher Agent und darauf konditioniert, sich als Merlins Sohn auszugeben. Was gelogen ist, da der Debugger deine DNA eindeutig identifiziert hat.«

      »Sie hieß Katee!«

      »Meinetwegen. Wir haben nicht viel Zeit. Ich werde dich jetzt nach Thornton Heath zurückbringen lassen, allerdings unter einer Bedingung: Du musst mir versprechen, dass du niemals in die Nähe unserer Basis zurückkehren wirst. Hast du mich verstanden?«

      Ich nicke stumm.

      »Dann komm.«

      »Einen Moment, bitte. Ist Philipp hier? Und was wird aus Katees Leichnam?«

      »Katees Körper wird analysiert und anschließend eingeäschert. Was Philipp Becker angeht, einverstanden, holen wir ihn ab.«

      Wir dürfen gehen. Einer von Fragen und Zweifeln geprägten Zukunft entgegen, gebunden an ein Versprechen. Ohne die geringste Chance, die Wahrheit zu erfahre. Wie ein Ferkel dem Metzger laufe ich Ny'Chelle schweigend hinterher. Durch ein Labyrinth namens Morgiana's Lair. Abrupt bleibe ich stehen, ich habe zu viele Fragen. »Ny'Chelle?«

      »Schweig! Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, ist dein Vater beileibe nicht der einzige, der nach deinem Leben trachten wird.«

      »Wer noch? Ihre goldenen Roboter?«

      Ny'Chelle blinzelt mit den Lidern. Mich schaudert bei dem Gedanken, wie sie am Ende ihrer laufenden Metamorphose aussehen wird. Sie schnappt meinen Arm, zerrt mich weiter, bis ein Schott sich öffnet und meine Flucht zu Ende ist.

      »Hallo Ny'Chelle.«

      Er versperrt meinen Weg in die Freiheit. Breitbeinig und die Arme militärisch hinter seinem Rücken verschränkt. Sein Blick ist kalt, enthält weniger Leben als der Taststrahl der Gladiatroniken. Für eine Sekunde kreuzen sich unsere Blicke, münden in gegenseitigem Erkennen. Es gibt für mich keinen Zweifel, vor mir steht Kyle Steward Francis Jennings, mein totgeglaubter Vater.

      »Weißt du, Ny'Chelle, du hast mich enttäuscht. Ich habe Eichendorff prüfen lassen, ob du pflichtgemäß dem Vertrag von Helios zufolge in deiner Unterkunft mit deinem Erlöser zusammengetroffen bist. Stattdessen befreist du einen Gefangenen und bringst uns alle in Gefahr.«

      »Kyle, du hast kein Recht, uns zu belügen und deinen Sohn zu liquidieren.«

      »Halt mir keine Vorlesungen, Astartin.«

      Purpurne