Joachim Reinhold

Jennings, Erdprotektor


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Kugelhagel lichten sich die Reihen, dennoch wird der Gefangenenchor von Stonehenge lauter, schmettert unseren Mördern mein pervertiertes "Rule, Britannia" mit fester Stimme entgegen. Als ein Megaphon übersteuert quietscht und eine Stimme von außerhalb der Anlage ertönt, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

      »Hier spricht Edwards von der BBC. Im Steinkreis von Stonehenge spielen sich unglaubliche Szenen ab. Die Geiseln singen "Rule, Britannia" und werden für ihre heroische Tat reihenweise von den Terroristen erschossen. Armee und Politik sind machtlos. Alle Verhandlungsangebote wurden abgelehnt. Eines steht dennoch fest: Die Welt sieht eine Schar junger Leute, die sich nicht dem verbrecherischen Treiben fanatischer Extremisten unterordnen. Sie sieht junge Menschen, die für unsere Freiheit und ihr Überleben kämpfen. Selbst wenn in wenigen Stunden die Atombombe gezündet und die Region um Salisbury untergehen wird, haben die Terroristen und ihre menschenfeindliche Ideologie verloren. Sie werden nicht als selbsternannte Märtyrer sterben und ins Paradies einkehren, sondern als lächerliche Fußnote der Geschichte enden. Wie vor wenigen Tagen in den Staaten ist es den Fanatikern auch auf britischem Boden nicht gelungen, der Welt ihre Ehre und Moral zu nehmen.«

      Es dauert nicht lange, bis die Terroristen eingesehen haben, dass es keinen Sinn macht, unseren Chor weiter zu dezimieren. Ohne Geiseln könnte ein gezielter Luftschlag das Pack erledigen und die Bombe vernichten, ohne das sie explodieren würde. Schade, dass ich keinerlei Rechte an dem Song besitze und in Kürze sterben werde. Die "Opfer-von-Stonehenge-Benefiz-CD", der Hinterbliebenenfond und Tommys kleiner Souvenir-Shop hätten mich zu einem reichen Mann gemacht. Ich blicke zu Philipp hinüber.

      »Du, ich brauch ein Bier.«

      »Sorry, Tommy«, lacht Philipp freudlos und zuckt mit den Schultern. »Alles alle, und Nachschub kommt nicht mehr.«

      Über die Stadtmauern hallen Appelle von Politikern und muslimischen Verbänden. Man verliest Grußbotschaften der UNO und des Vatikans, der Botschafter Israels bittet um mehr Zeit. Sinnlos, ein gut gezielter Schuss bereitet dem Riesenmegaphon ein jähes Ende.

      Auf der Stadtmauer herrscht Volksfeststimmung, die Attentäter feuern in die Luft, machen sich gegenseitig Mut.

      »Da, schau!«, ruft Philipp und zeigt in den Himmel. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.« Hubschrauber um Hubschrauber starten, das Empire und die Medien geben uns zum Abschuss frei.

      »Noch fünf Minuten«, hauche ich nach einem Blick auf meine Armbanduhr und lasse den Kopf hängen. Das ist alles? Mehr hat das Leben für mich nicht übrig gehabt?

      Philipp stupst mir seinen Ellbogen in die Seite. »Komm!«, sagt er kurz und steht auf. »Was habe ich gesungen? Wir kamen als Fremde und werden als Freunde sterben?«

      »Yeah!«, sage ich und erhebe mich ebenfalls, ziehe mein mit Katees Blut verkrustetes Hemd gerade. »Auf gehts!«

      Wir bücken uns, Philipp hilft mir Katees Leichnam aufzurichten. Ein letztes Mal schließe ich meine Verlobte in die Arme. Es fühlt sich an, als würde ich eine Schaufensterpuppe umfassen. Mein Gesicht fest an ihren Kopf gekuschelt, mit zusammengekniffenen Augen und auf Durchzug geschalteten Ohren warte ich auf den alles verbrennenden Blitz. Um uns herum herrscht der blanke Wahnsinn.

      »Hey Edwards, komm sofort zurück!«

      »Rule, Britannia!«

      »Schnauze!«

      »Ich will zu meiner Mama.«

      »Vater, der du bist im Himmel –«

      »Tick, tock, tick, tock. There goes the clock.«

      »Allahu akbar!«

      Und es wird Licht!

      Irgendwo im Nirgendwo

      Eine alles verzehrende Helligkeit. Die Farbe Weiß ist zu dunkel und zu kalt, um das grelle heiße Licht zu beschreiben. Schatten tanzen vor meinen Augen, verdichten sich zu einem Bild. Sanddünen, an deren Horizont sich die Sonne in einem blutroten Flammenmeer verabschiedet. In der Ferne erkenne ich eine Moschee. Ein Muezzin ruft von seinem Minarett die Gläubigen zum Gebet. Mit der abnehmenden Helligkeit werden Myriaden von Sternen sichtbar, deren Funkelfeuer …

      Ein Riss im Film katapultiert mich in meinen Kinosessel zurück. Draußen im Foyer wartet Gevatter Tod auf meine Seele. Enttäuscht blicke ich mich um. Die Logenplätze füllen sich. Meine Eltern und Tante Daisy winken mir fröhlich zu. Ich winke zurück.

      Katee stöckelt sich ihren Weg durch die Sitzreihe, darauf bedacht mit unseren Snacks nicht über die herumliegenden Toten zu stolpern. Ich nehme ihr das Tablett ab, parke es auf meinem Schoß. Das Tablett kippt um, Tonnen von fettigen Nachos samt essigsauren Jalapeños und klebriger Salsa ergießen sich über unsere nackten Körper.

      Es klingelt. Philipp steht zwischen den Monolithen, mimt den Platzanweiser. Ich wühle in Katees verfilzten Haaren, bringe eine Taschenlampe zum Vorschein. Kurz schätze ich die Entfernung ab, ein gut balancierter Wurf befördert die Lampe in Philipps Hände. Wir nicken uns zu, die Show beginnt. Mein deutscher Freund zieht den Vorhang im Torbogen zur Seite, eine Menschenmasse aus Bekannten und Freunden strömt in den mit Atomsprengköpfen verzierten Saal. Selbst Dekan Honourtree gibt sich die Ehre und platziert sich neben Amir, der Sue Bellatreccia und George W. mit einem selbstgebastelten Papierflieger seinen Anflug auf das World Trade Center erklärt. Ka-Boom.

      Ein dumpfer Gong ertönt. Langsam erhebe ich mich und streiche den zu Lebzeiten für meine Beerdigung gekauften, blütenweißen Anzug faltenfrei. Beifall brandet mir entgegen, ich begrüße die Menge.

      »Hallo, Ihr Süßen! Na, alle gut versorgt mit Nachos, Popcorn, Gras und Bier? Klasse. Machen wir es kurz, viel Spaß bei meinem Film: Das Leben und Sterben des Thomas Kyle Jennings. Yeah!«

      Die Menge jubelt. Das Licht geht aus, die ersten Joints funkeln in der Schwärze. Endlich beginnt der Streifen, und ich falle erleichtert in meinen Sessel zurück. Die mumifizierte Katee reicht mir ein paar verschimmelte Nachos, während es in ihren vertrockneten Augenhöhlen zwischen zwei Kakerlaken zur Sache geht. STOP!

      Ich schrecke aus meinem Kopfkino hoch, reiße die Augen auf und blicke in ein Meer aus Licht. Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern. Ist die Bombe detoniert? Bin ich tot? Oder kauere ich noch in Stonehenge und habe mich in den Wahnsinn geflüchtet? Gut, ich sterbe gerade zum ersten Mal. Woher soll ich wissen, wie sich der eigene Tod anfühlt? Hat Katee Recht behalten, sich das Tor geöffnet und Merlin mich gerettet? Ja, klar. Auf Burg Camelot ist Jahrmarkt und alle warten auf mich. Merlin, der Runde Tisch. Arthur, Simeon und Arsinoë. Moment. Wer? Ach ja. Gawain, Tristan und Isolde.

      »Hallo. Merlin?«

      Zwar bin ich nackt, die Haut zerschrammt und mein Körper übersät mit Blut, aber mein Humor und ich sind quicklebendig.

      »Katee? Philipp? Hallo!«

      »Du musst nicht schreien«, flüstert eine Stimme hinter mir.

      Ein Schatten legt sich auf meine linke Schulter. Ich wirbele herum. Unfähig, den Anblick zu verkraften, sacke ich zu Boden.

      »Mutter!«

      »Hallo Bärchen.«

      Verzweifelt grapsche ich nach der Lichtgestalt und durch sie hindurch. Das Wesen mit dem Antlitz meiner toten Mutter ist nicht real. Mit Tränen versiegelte Staudämme brechen auf. Der Anblick ihres starren, an einer verdrillten Wäscheleine hängenden Körpers hat sich wie Säure in mein vierjähriges Herz gefressen.

      »Meine Mutter ist tot!«, winsele ich wie ein Hund, den man getreten hat. »Hören Sie auf, mit mir zu spielen. Bitte!«

      »Aber Bärchen, erzählen nicht alle Religionen von einem Leben nach dem Tod? Davon, dass man von seinen Angehörigen erwartet und in Empfang genommen wird? Tommy, mein Liebling. Hast du deinen Glauben verloren?«

      Ich bin hin- und hergerissen, wünsche mir, dass ich keinem Hokuspokus aufgesessen bin und tatsächlich meine über alles geliebte Mutter vor mir steht. Oder der Spuk endet. Ein Spuk mit