Jörn Holtz

Paradies am Teich


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werden.

      Zwar kehrten sie immer noch regelmäßig hierhin zurück, um beispielsweise so wie jetzt den Sonnenuntergang zu genießen. Dennoch wurde es nie wieder so wie früher, wo es nur ums nackte Sein und ums Erfahren ging. Denn nachdem die Miliz den Strand geräumt und ihre behelfsmäßigen Unterkünfte in Brand gesteckt hatte, war diese unbeschwerte Ära ein für alle Mal vorbei.

      Eine große Anzahl der Schwestern und Brüder kehrte enttäuscht oder aus sozialen Zwängen in ihr verpöntes, bürgerliches Leben zurück. Ein Teil von Lottas Clan jedoch blieb zusammen und schuf sich weit hinten im Tal ein neues Zuhause und eine eigene Gesellschaftsform, die hier ihren Ausgangspunkt genommen hatte.

      „Ja, dieser Ort ist wirklich magisch!“, nickte Lotta zustimmend, wobei sie sehnsüchtig erneut aufs Meer hinaussah. Während ihr Blick durch die Brandung glitt, verspürte sie auf einmal den Wunsch, sich mit ihnen zu vereinigen. „Habt ihr eigentlich auch Lust zu baden?“, zog sie kurzentschlossen ihre Hose aus, bevor sie ihre Begleiter, auffordernd, fragend ansah. Dann folgte ihr Top und das Tuch, dass sie um die Haare trug, sowie die Kette und so stand sie schon nackt vor ihnen, bevor die beiden irgendeine Antwort von sich geben konnten.

      Überrascht, aber nicht verblüfft sahen sich Anne und Ole kurz an, was für Lotta aber schon zu lange dauerte. „Was ist, keine Lust? Ihr wollt mich doch nicht allein baden lassen, oder?“, stemmte sie ungewohnt ungeduldig ihre Arme in die Seite.

      „Ähm, doch!“, kratzte Ole sich verlegen am Kopf, bevor er zu Lotta hochsah. „Ja aber, das geht doch nicht! Hier stehen doch überall Schilder herum, auf denen für jedermann gut lesbar steht: Kein FKK!“

      „Ach Ole!“, schüttelte Lotta sich auf einmal vor Lachen und lies ihren kleinen rechten Zeigefinger vor seinem Gesicht hin und her wackeln. „Um diese Uhrzeit ist das schon okay. Denn um diese Uhrzeit schlafen die streng katholischen Gomeros schon“, griente sie ihn verwegen an.

      Gelebte Utopie

      Langsam erwachte Ole aus einem unruhigen Schlaf, während er zufrieden mit der linken Hand sanft über Annes muskulösen, unbedeckten Rücken strich. Vorsichtig bewegte er sich dabei etwas hin und her, um so eine bequemere Position für sich zu finden. Denn sein eigener Rücken schmerzte gerade unangenehm, obwohl er es mittlerweile gewohnt war, auf dem Rücken zu schlafen.

      Dann jedoch schloss er erneut seine Augen, um weiter einen Gedanken nachzuhängen, der sich mit seiner neuen Heimat beschäftigte.

      Seine neue Heimat war seit kurzem La Gomera, ein fast paradiesisch anmutender Fleck aus Vulkangestein, der aufgrund seiner geographischen Lage mit ewig frühlingshaften Temperaturen gesegnet ist. Daher ist diese wunderschöne Kanareninsel auch seit Jahrzehnten das Ziel vieler Aussteiger, die hier dem ungemütlichen Klima Mitteleuropas entfliehen.

      Doch als Aussteiger sah er sich nicht, wenn dann schon eher als Umsteiger, den es durch die Verstrickung mehrerer glücklicher Umstände hierhergeführt hat. Zuvor hatte er sein altes Leben, als Support Engineer für ein großes amerikanisches Unternehmen, gegen das einfache Leben hier in dieser nahezu tropischen Landschaft eingetauscht.

      Dabei stellte er bald fest, dass das einfache Leben hier, bei näherer Betrachtung auch nicht immer einfach war, auch wenn dieses zauberhafte Tal im Südwesten von La Gomera, mit seinen Bananenplantagen und mit seinen jahrhundertealten künstlichen Terrassen, auf den ersten Blick etwas anderes versprach.

      Zwar plagten sich hier die Bewohner noch nicht mit den schnöden Wohlstandskrankheiten oder dem medialen Overflow einer westlichen Industriegesellschaft herum, doch war auch hier die Zeit nicht stehen geblieben und die meisten der verbliebenen deutschen Migranten waren mittlerweile weitestgehend in die Gesellschaft integriert. Dabei hatten sie einen mehr oder weniger ausgeprägten Unternehmergeist entwickelt, nur eben anders als in ihrer alten Heimat.

      Am meisten spürte er dies hier im El paraíso en el charco, einer kleinen Ansammlung von einfachen Fincas an einem wunderschönen, natürlichen Teich, hoch oben am nordöstlichen Ende der grünen Talzunge von Valle Gran Rey. Hierhin hatten sich Mitte der Siebziger Jahre einige der verbliebenen deutschen Immigranten zurückgezogen, um ihren Traum von einer anderen Gesellschaftsform in die Tat umzusetzen.

      Als eine New Community wollten sie hier zusammenleben, lieben und arbeiten, um so eine im industrialisierten Westen längst verlorengeglaubte Ganzheit wieder zu beleben. Zwar hatte sich vieles seit damals verändert und weiterentwickelt, dennoch konnte man deutlich spüren, dass sie das Wesentliche ihres Traums nicht aus den Augen verloren hatten.

      Für Ole hingegen als nüchterner, kopfgesteuerter Informatiker, stellte dieses Gegenmodel noch immer eine Art utopische Gesellschaftsform dar, die ihn jedoch sehr real umgab.

      Denn während er weiterhin Anne zärtlich über den Rücken strich, kuschelte sich auf einmal auf der anderen Seite Lotta in seinen Arm. „Buenas Diaz! Hast du auch so gut geschlafen?“, gähnte sie leise, wobei sie ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange gab.

      „Hm“, brummte er gerade zustimmend, als ein lauter Gong erklang, der die zumeist noch schlafende Gemeinschaft zum Frühsport aufrief.

      „Mist, schon so spät?“, sah sie überrascht auf die Uhr. „Mir kommt es vor, als wären wir gerade erst ins Bett gegangen“, wuselte sie dabei in ihren kurzen blonden Haaren herum, bevor sie sanft über Annes Wange strich, die daraufhin lächelnd die Augen öffnete.

      „Nein, im Bett waren wir schon recht früh!“, küsste sie zuerst Lotta und dann Ole, bevor sie ihm überraschend munter direkt in die Augen sah. „Vamos!“, nickte sie ihn aufmunternd zu, bevor sie ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen hauchte. „Dann mal raus aus den Federn! “, erhob sie sich und stieg über ihn hinweg aus dem Bett.

      Ole dachte jedoch nicht daran aufzustehen, denn wie jeden Morgen genoss er zunächst einmal den Anblick ihres durchtrainierten Körpers, während sie vor dem bodentiefen Fenster, von dem man einen wunderschönen Blick ins Tal hatte, ein paar Dehnübungen machte, um sich fürs Laufen aufzuwärmen. Als der Gong zum zweiten Mal ertönte, wurde es auch für ihn und Lotta Zeit sich zu erheben, und anzuziehen.

      Frühsport an sich und ausgedehntes joggen gleich nach dem Aufstehen in speziellem gehörten eigentlich nicht zu den Dingen, auf die Ole sich überschwänglich freute. Doch schien zumindest sein Körper sich zu assimilieren, so dass er es neuerdings sogar ein wenig genießen konnte, mit den anderen am Rande des immergrünen Nebelwaldes entlangzulaufen, ohne dass er von Seitenstichen oder Kurzatmigkeit geplagt wurde.

      Den krönenden Abschluss, dieses sportlichen Ausfluges am Busen der Natur, bildete dabei stets ein gemeinsames Bad in dem großen, natürlichen Teich im Herzen ihrer kleinen Siedlung.

      Als er zum ersten Mal an diesem öffentlichen Bad teilgenommen hatte, kam es seiner Vorstellung von einem Garten Eden sehr nahe. Denn egal, ob jung oder alt, alle gaben sich hier völlig natürlich und plantschten ausgelassen herum, wobei selbst die anwesenden Teenager keine Probleme mit ihren sich transformierenden Körpern hatten.

      Während des darauffolgenden gemeinschaftlichen Frühstücks, fühlte Ole sich durch das Bad im eiskalten Wasser erfrischt und voller Tatendrang, was neu für ihn war, ebenso wie das Gefühl, sich als ein Teil einer großen informellen Gemeinschaft zu fühlen. Dieses Gefühl gefiel ihm mittlerweile sehr, nach all der Zeit, der zumeist selbst gewählten Einsamkeit und der körperlichen Gebrechen. So haderte er auch mit der Meinung von einigen der älteren Kommunarden. Denn diese sogenannten Stones betrachteten Anne und ihn bisher lediglich als Sommergäste von Lotta. Nur hoffte er nicht, dass sie am Ende Recht behielten. Lag sein altes Leben gerade nicht nur entfernungsmäßig sehr weit weg von diesem lebens- und liebenswerten Ort.

      Als kleine Anerkennung, so empfand er es zumindest, war ihm seit kurzem die Aufgabe übertragen worden, sich um die wirtschaftlichen Belange der Gemeinschaft zu kümmern. Denn diese verpönte monetäre Aufgabe war den meisten der Stones, aufgrund ihrer antimaterialistischen Haltung, naturgemäß zuwider, wollten sie sich doch lieber mit höheren Dingen beschäftigen. Dies konnte er nachvollziehen, was ihn jedoch wunderte, war dass sie sich dann aus